Rückblick Rilke Symposium 2025
Rückblick Rilke Symposium 2025
Vorträge und Redner
Vorträge und Redner
Er hat eine unglaublich tolle Rilke Biografie geschrieben - "Rilke. Der ferne Magier". Gunnar Decker wuchs in Bad Doberan auf. Er studierte Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1991 arbeitete er mit einem Promotionsstipendium an der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel 1994 wurde er an der Humboldt-Universität mit einer Dissertation über Gottfried Arnold promoviert. Seit 1995 arbeitet er als freiberuflicher Film- und Theaterkritiker, seit 1997 als Buchautor. Mit seiner Frau Kerstin Decker veröffentlichte er im Jahr 2000 einen Band Essays. Er ist Verfasser biografischer Bücher zu Ernst Jünger, Hermann Hesse, Gottfried Benn und zu Rilkes Frauen. Seit 2008 schreibt er als Redakteur für die Zeitschrift Theater der Zeit. Er lebt in Berlin.
Von Gunnar Decker
In seinem ebenso schmalen wie großräumig gedachten Prosawerk, den „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, an denen Rainer Maria Rilke von 1904 (da war er in Rom) bis 1910 arbeitete – die Schlussredaktion erfolgte beim Insel-Verlegerehepaar Anton und Katharina Kippenberg in Leipzig –, hält der Autor der Großstadt der modernen Welt Paris den Spiegel vor. Ein Satz von ihm wird darin gleichsam zur Selbstermahnung: Er war Dichter und hasste das Ungefähre.
Zur gleichen Zeit schrieb er in Paris seine „Neuen Gedichte“, darunter den berühmten „Panther“ im Jardin des Plantes. Hier wie dort geht es um den Preis des modernen Lebens: Entfremdung, Einsamkeit, Ausgeliefertsein an anonyme Mächte, Verlust religiöser Bindungen. Rilke ist ein Seismograph dieser Umbrüche, aber auch einer, der eine neue Sprache findet, um diese Erschütterungen dichterisch zu bannen.
Schon früher, in den Jahren 1899 bis 1903, hatte er mit dem „Stunden-Buch“ – dem „Buch vom mönchischen Leben“, dem „Buch von der Pilgerschaft“ und dem „Buch von der Armut und vom Tode“ – einen dichterischen Zyklus geschaffen, der in ganz eigentümlicher Weise das Verhältnis von Mensch, Welt und Gott neu auslotet.
Rilke war kein religiöser Dichter im konfessionellen Sinne, wohl aber ein spiritueller Suchender, der das Sprechen über Gott als eine existentielle Notwendigkeit erlebte. In seinen Versen wird Gott nicht als feste Größe, sondern als etwas zu Werdendes, als Möglichkeit, als „Gott im Werden“ erfahrbar. Und damit stellt sich Rilke in die große Tradition der Mystik, zugleich aber transzendiert er sie in eine Sprache der Moderne.
„Wir sind die Treibenden. Aber der Schritt der Zeit, nehmt ihn als Kleinigkeit im immer Bleibenden.“ – So heißt es im „Buch von der Armut und vom Tode“. Rilkes Lyrik versucht, im Flüchtigen das Dauerhafte, im Augenblick das Ewige zu erfassen. Dies ist ein dichterisches Projekt von größter Radikalität.
Für Rilke ist Kunst nicht Dekoration, nicht „Versilberung“ des Gewöhnlichen, sondern ein Ausbruch aus den Ketten der Gewohnheit: „Wir sind alle in Ketten geboren. Der und jener vergißt seine Ketten: er läßt sie versilbern oder vergolden. Wir aber wollen sie zerreißen. Nicht mit häßlicher und wilder Gewalt; herauswachsen wollen wir aus ihnen.“
In diesem Sinne ist Dichtung für ihn eine Form der geistigen Übung, ein Ringen um Sprache, die dem Unsagbaren Raum gibt. Sie ist ein Weg zur Freiheit, ein Durchbruch in eine tiefere Wirklichkeit.
Dass wir uns heute, mehr als hundert Jahre später, in Schrems in Niederösterreich zu einem Rilke-Symposium versammeln, ist Ausdruck dafür, dass diese Stimme noch immer nachklingt und uns etwas zu sagen hat. Nicht zuletzt in Zeiten, in denen Religion und Spiritualität neu befragt werden, kann Rilkes Werk Anstoß und Orientierung zugleich sein.
(Pfingsten 2025, Einführungsworte zum Rilke-Symposium in Schrems)
Rilke als Gottsucher? Der Weg vom "Stundenbuch" zu den "Duineser Elegien"
"Er war in gewisser Hinsicht der religiöseste Dichter seit Novalis, aber ich bin nicht sicher, ob er überhaupt Religion hatte. Er sah anders. In einer neuen inneren Weise."
Robert Musil, Rilke-Feier 16. Januar 1927
Von Gunnar Decker
Wie sie wissen, ist Rilke katholisch getauft worden, wuchs in der katholische Stadt Prag als Sohn einer sehr katholischen - aber durchaus emanzipierten - Mutter auf, an der er sich lebenslag abarbeitete. Wie auch an der Religionsthematik, die sich jedoch im Laufe seines Lebens durchaus anders akzentuiert darstellen wird. Den Bogen möchte ich hier mit allen der Zeit geschuldeten Raffungen skizzieren - ein passendes Thema zu Pfingsten vielleicht.
Rilke wurde katholisch getauft, katholisch erzogen - aber trat kurz vor seiner Heirat mit der Bildhauerin Clara Westhoff (die protestantischer Herkunft war) aus der Kirche aus - was jedoch keinen Eingang in seine Ehe-Urkunde fand, in der seine Konfession als katholisch angegeben wurde. Das wiederum wird sich dann als ernsthaftes Hindernis bei der von Clara gewollten Scheidung erweisen - so dass das Nicht-Mehr-Paar dann formell bis an sein Lebensende verheiratet blieb.
Die Zuwendung zur Religion als ein über das bloß Endliche hinausgehender Impuls ist von Anfang an ebenso stark, wie seine Ablehnung ihrer kirchlich-institutionalisierten Form. In seinem "Florenzer Tagebuch" schreibt der zweiundzwanzigjährige 1898: "Die Religion ist die Kunst der Nichtschaffenden. Im Gebete werden sie produktiv: sie formen ihre Liebe und ihren Dank und ihre Sehnsucht und befreien sich so."
Auch Rilkes frühe Gedichte, die dann Eingang ins "Stunden-Buch" finden, das dann erst 1905 (Jahre nach ihrem Entstehen) erscheint, werden die Nähe des Gebets zum Gedicht kultivieren. Stunden-Gebete sind ein Teil klösterlichen Lebens, Rilke fühlt sich um 1900 als ein Pilger (er hat gerade zwei Russland-Reisen mit Lou Andreas-Salomé hinter sich), als "Mönch" sogar, der über Askese und Franz von Assisis urchristliche Ideale der Eigentumslosigkeit nachdenkt.
Das hat bei ihm aber immer einen Hintergrund, der den Dichter zeigt. Sein Fin-de-Siecle-Gefühl sagt ihm gegen jene Jugendstilornamentik, die auch ihn eine zeitlang gefangen nimmt, dass es Zeit wird, eine neue Sprache zu finden, denn: "Die ganze Sprache ist verbraucht." Das ähnelt dem Befund Hugo von Hofmannsthals, der in seinem berühmten "Chandos"-Brief konstatierte, dass ihm die Worte "wie modrige Pilze im Mund zerfallen".
Das gilt es für Rilke zu überwinden, bereits in jenen ersten Gedichten, die ihm bewahrenswert erschienen, und die er zum Teil noch Ende der 1890er Jahre in Prag schrieb, zumindest bewegen sie sich innerhalb des Prag-Sujets. Da zeigt sich eine starke Hochschätzung der Armut bei Rilke, die sich ebenfalls lebenslang durchzieht und seinen gelegentlich kuriosen Hang zum Luxus (Grand-Hotels, Zierrat aller Art, Erste-Klasse-Bahnfahrten) auf merkwürdigen Weise kontrastiert. Er nimmt die einfachen Menschen ernst, sieht sich selbst als einen Pilger auf dem Weg zum einzig wahren Wort des Dichters.
So lesen wir gleich in einem seiner ersten haltbaren Gedichte, die man von den reinen Jugendgedichten unterschieden muss:
In der Vorstadt
Die Alte oben mit dem heisern Husten,
ja, die ist tot. - Wer war sie? - Du mein Gott,
sie gab uns nichts, - ihr gab man Hohn und Spott...
Kaum, dass die Leute ihren Namen wussten.
Und unten stand der schwarze Kastenwagen -
Die letzte Klasse; als der Totenschrein
sich spreizte, stieß man fluchend ihn hinein,
und dann ward rauh die Türe zugeschlagen.
Der Kutscher hieb in seine magern Mähren,
und fuhr im Trab so leicht zum Friedhof hin,
als wenn da nicht ein ganzes Leben drin
voll Weh und Glück - und tote Träume wären.
Das ist ein gutes Gedicht Rilkes, geschrieben mit Anfang zwanzig, gut, weil darin nichts gelogen ist - auch wenn sich die Form natürlich verändern wird, in der Rilke sich ausdrückt. Später schreibt Rilke anders: distanzierter, kälter und härter. Er will jeden Anflug von Erbaulichkeit aus seiner Dichtung austreiben - bis hin zu den "Duineser Elegien", den "Sonetten an Orpheus" und dem lautmalerisch-experimentellen "Gong"-Gedicht, der 1920er Jahre in der Schweiz.
Es ist merkwürdig: Als das „Stunden-Buch“ Ende 1905 im Insel Verlag erscheint, ist dies für Rilke wie ein Dokument seiner Jugend, die im Empfinden des neunundzwanzigjährigen Dichters lange schon hinter ihm liegt. Er ist längst über Rodin hin zur Welt der „Neuen Gedichte“ (der kühlen Ding-Gedichte) und der „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ durchgedrungen.
Mit dem „Stunden-Buch“ erreicht er erstmals einen größeren Leserkreis. Es wird zum Triumph einer Rilke selbst höchst problematisch gewordenen Auffassung von Dichtung. Rilke verleugnet diese nicht, sie hat ihre Vorzüge ebenso wie ihre Schwächen. Sie gehört zu ihm, gewiss, aber wichtiger ist für ihn: Er ist über die „Stunden-Buch“-Welt hinaus und will auch nicht wieder in sie zurückgezogen werden. Dennoch ist er mit der Art und Weise, wie der Insel Verlag „Das Stunden-Buch“ herausgebracht hat, überaus zufrieden.
Den drei Teilen „Das Buch vom mönchischen Leben“ (1899), „Das Buch von der Pilgerschaft“ (1901) und „Das Buch von der Armut und vom Tode“ (1903) ist die Widmung vorangestellt: „Gelegt in die Hände von Lou“. Mit diesem Buch vollzieht er den Wechsel vom Verlag Axel Juncker zum Insel Verlag, wo er sich bald eng an den Verleger Anton Kippenberg und seine Frau Katharina anschließen wird. Juncker ist tief enttäuscht, dass er Rilke ziehen lassen muss. Als das „Stunden-Buch“ erscheint, weilt Rilke bei Rodin in Meudon, wohin ihn dieser eingeladen hatte.
Sein neuer Förderer Karl von der Heydt bespricht das „Stunden-Buch“ in den „Preußischen Jahrbüchern“. Es ist eine freundlich anerkennende, fast schon rühmende Besprechung – jedoch der Ton zeigt den Bankier mehr als den Enthusiasten. Da ist von „Gipfeln der deutschen Lyrik die Rede“, von Rilkes „überreicher Technik“, aber auch von „Geisterbeschwörungen“. Von der Heydt erkennt – stellvertretend für viele zeitgenössische Leser – im „Stunden-Buch“ vor allem „Gebetsstimmungen“, das „Suchen der Seele nach Gott“.[i] Dass dies für Rilke keine Einbahnstraße ist, dass – ganz im Sinne der Mystik – auch Gott nach der Seele des Einzelnen sucht, entgeht von der Heydt.
Rilke ist von der Insel-Buchgestaltung fasziniert. Denn für ihn bleibt ein Buch immer ein Gesamtkunstwerk, bei dem es auf jedes Detail ankommt. So schreibt er am 6. Januar 1906 an Carl Ernst Poeschel, den scheidenden Mitverleger von Insel: Das Stunden-Buch in seiner jetzigen Form wird mir mit jedem Tag vertrauter: ich lese darin wie in meinem Manuscript; der Druck ist herrlich stark und klar, ganz wie ich ihn wünschte.[ii]
Das „Stunden-Buch“, vor allem sein erster – umfangreichster – Teil „Das Buch vom mönchischen Leben“ nimmt die Wendung vom „Stundengebet“ der mittelalterlichen Liturgie auf. Mittelalterliche Stundenbücher haben zuerst einen kalendarischen Sinn. Sie strukturieren das Jahr wie den Tag mit der Absicht, ihn zu heiligen. Winter und Sommer, Tag und Nacht, Schlafen und Wachsein, Licht und Dunkel, Ruhe und Arbeit, zuletzt auch Leben und Tod werden in einen zyklischen Zusammenhang gebracht – gleichsam in den ewigen Wechsel von Sonnenauf- und Sonnenuntergang.
Zwischen Gebet und Buch gibt es im Mittelalter einen engen Zusammenhang, ebenso mit der Malerei. Vor der Erfindung des Buchdrucks sind es Werke der Buchmalerei, deren berühmtestes vielleicht das „Stundenbuch des Herzogs von Berry“ ist. Nach dessen Tod 1416 fanden sich zahlreiche Handschriften in seinem Nachlass, darunter 15 Stundenbücher. Diese waren zum Gebrauch für Laien bestimmt, die sich, dem Vorbild der Mönche und Priester folgend, zu festgelegten Zeiten dem Gebet widmen wollten. Aber es sind mehr als nur Bilderfolgen der Bibel, hier wird auch die Brücke zum profanen Leben geschlagen. Denn Stundenbücher zeigen die Zeit an, zählen auch die Stunden, die jedem noch bleiben. Dieses Zugleich von religiösem und profanen Inhalt fasziniert Rilke. Schließlich nimmt er sich im Paris des Jahres 1905 drei frühe Gedichtzyklen vor – und fügt sie zu einem einzigen großen zusammen. Dabei geht es ihm zuerst um einen in Ausdruck verwandelten Rhythmus, der dem langen Atem des Beters folgt. Aber das sollte man nicht mit dem Gebet zu Gott in traditioneller Weise verwechseln, wie es nach dem Erscheinen des „Stunden-Buchs“ häufig geschah.
Es ist tatsächlich viel von Gott darin die Rede – und der Irrtum, man lese hier die Gedichte eines von seiner Frömmigkeit getragenen Gottsuchers, also genuin religiöse Dichtung, wurzelt vor allem im ersten Teil des „Stunden-Buchs“. Aber es ist nur bedingt der christliche Gott, um den es hier geht – so viel und so wenig es in den Schriften der Mystiker von Meister Eckhart bis Angelus Silesius um diesen geht. Beide Autoren kennt Rilke, der als Dichter keinen Ehrgeiz darein setzt, besonders viele Bücher zu lesen. Aber diejenigen, die er liest, liest er auf eine besondere, eine innige Weise. Bei Meister Eckhart wohnt Gott auf dem Grunde der Seele des Einzelnen, der sich in sich versenken, „Wesensschau“ halten muss, um gleichzeitig Gott und sich selbst zu erkennen. Um dieses Verhältnis von Ich und Gott geht es auch im „Buch vom mönchischen Leben“. Gott erscheint hier also gleichsam als das andere zum Ich, ein Gegenüber, das kein unpersönliches Prinzip ist. Ein Wegbegleiter, an den man das Wort richtet und gegenüber dem man gleichzeitig auf Antwort lauscht.
Wie auch Angelus Silesius glaubt Rilke nicht an die Existenz Gottes außerhalb dieser Ich-Du-Beziehung. Darum erscheint hier Gott als Verbindung zwischen dem Kleinsten (das franziskanische Prinzip der Minoriten, der minderen Brüder) und dem Größten, der Alleinheit. Eines ist nicht ohne das andere.
Bei Angelus Silesius lesen wir: „Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein; Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.“ Oder auch: „Gott ist mir das Feu´r, und ich in ihm der Schein: Sind wir einander nicht ganz inniglich gemein?“[iii]
Ganz Ähnliches erfahren wir von Gott im „Buch vom mönchischen Leben“. Da ist vom Nachbar Gott die Rede und wird auch gesagt, woran er glaube: Ich glaube an Nächte. Und auch: Ich glaube an alles noch nie Gesagte.[iv]
Im Grunde scheint es eine Abfolge von Innenansichten eines Werdenden zu sein, ein fortwährend variiertes Bekenntnis wie es sich gleich im ersten Gedicht des „Stunden-Buchs“ findet: Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, / die sich über die Dinge ziehn. / Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, / aber versuchen will ich ihn.[v]
Da hat jemand einen starken Willen zur Transzendenz, dem Überschreiten-Wollen des bloß Diesseitigen, aber gleichzeitig eine Scheu vor dem Jenseits. Darum ist das von Rilke gemeinte Jenseits ebenso ein Diesseitiges. Transzendenz und Immanenz durchdringen einander – entscheidend ist der Impuls des Überschreiten-Wollens.
In einem für das „Stunden-Buch“ bezeichnenden Gedicht im „Buch vom mönchischen Leben“ heißt es: Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe? / ich bin dein Krug (wenn ich zerscherbe?) / Ich bin dein Trank (wenn ich verderbe?) / Bin dein Gewand und dein Gewerbe, / mit mir verlierst du deinen Sinn.[vi] Damit ist deutlich gesagt, Gott ist nichts ohne den Glaubenden, er ist sogar nur durch ihn!
Warum gibt Rilke nun mit dem „Stunden-Buch“ einen Gedichtzyklus heraus, den er ganz offensichtlich bereits zurückgelassen hat? Schließlich arbeitet er gerade an Gedichten, die einen ganz anderen Ton haben und auch an den keinem direkten Vorbild mehr folgenden „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“? Vielleicht weil ihn die Frage nach dem umtreibt, was von einem Sagen bleibt, das sich ganz offensichtlich bereits überlebt hat?
Beim ersten Aufenthalt bei Rodin (1901 in Paris) hatte ihn dessen harte Forderung nach dem "Toujours travailler" - „Immer arbeiten!“ fast erschlagen, nun beginnt er, im Rückgriff auf seine frühen Gedichte, sich davon zu distanzieren, ohne es ganz zu dementieren. Er weiß inzwischen, dass er das nicht kann, immer arbeiten, das hieße ständig neue Werke zu produzieren. Das will er auch nicht mehr – und um diese neue Position zur Arbeit zu formulieren wird das „Stunden-Buch“ ihm notwendig.
In gewisser Weise folgt er darin nicht nur Franz von Assisi und seinem Lob der Armut (das auch die geistige Armut mit einschließt), sondern bereits dem heiligen Benedikt und seiner Klosterregel „Ora et labora“. Man muss nicht nur arbeiten, sondern auch beten! Das übersetzt der entlaufene Prager Katholik auf seine Weise: Der Geist muss Atem schöpfen können.
Franz von Assisi ist im „Stunden-Buch“ ebenso präsent wie Rilkes Erfahrung mit den russischen Menschen. Für den Bildhauer und Schriftsteller Ernst Barlach wird 1906 dessen Russland-Reise zu ebensolcher Erschütterung (ein Weckruf zum Wesentlich-Sein), wie sie es auch für Rilke war.
Barlach wird nicht selten – und ebenso missverständlicherweise – für einen religiösen Künstler gehalten. Auch er ist auf einer Pilgerreise, in der Gott und Mensch letztlich ununterscheidbar werden. Sein Menschenbild wurzelt in der Würde von Armut, wenn er bekennt, seine Lieblingsthemen seien: „Bettler, Beter mit ihrem Nichts vor dem Tiefsten und Höchsten.“[vii]
All unsere Gebete sind letztlich Selbstgespräche, die über uns hinausweisen. Sie bezeugen ein Unterwegssein, wie der Titel des zweiten Teils des „Stunden-Buchs“ sagt: „Von der Pilgerschaft“. Hin zum anderen, der uns zum Gegenüber wird, wie der „liebe Gott“ in Rilkes Geschichten, die doch ebenso Geschichten von uns sind?
Rilkes Nähe zur Mystik hat ihren Grund nicht zuletzt darin, dass er, wenn er über Geist und Glaube spricht, das Poetische als eigentliche Verheißung darin sucht. Mit anderen Worten: Ein Autor, der ohne gestaltende Phantasie, ohne den Willen zur Selbsterforschung ist, interessiert ihn nicht. Die Bibel ist ihm ein Buch prallvoll von wunderbar kraftvollen wie zarten Geschichten, die uns alle unmittelbar angehen. In poetischer Hinsicht bleibt sie unübertroffen. Alles Prophetische hat für Rilke nur einen Wert, wenn es eingebunden ist in einen überzeugenden Ausdruck, der für sich steht.
Thomas‘ von Kempens „Nachfolge Christi“ („Imitatio Christi“) von 1418 ist ihm aus dem gleichem Grunde nahe, denn sie erzählt von unseren Nöten, geboren zu werden und sterben zu müssen. Es wird damit gleichsam zu einem existentialistischen Werk. Bei Thomas von Kempen können wir lesen, was auch Franz von Assisi über den Besitz von Wissen sagte, der wie aller Besitz schädlich sei: „Laß ab von der überspannten Wissbegier; denn es ist viel Zerstreuung und viel Trug dabei. Die viel wissen, wollen auch den Schein haben, dass sie viel wissen und hören es gern, wenn man von ihnen sagt: Siehe, das sind weise Männer! Es gibt so viele Dinge in dieser Welt, deren Erkenntnis der Seele wenig oder nichts einträgt. Und auf etwas anderes sinnen, als was das Heil der Seele fördern hilft – dazu gehört wahrhaftig ein großes Maß an Torheit. Viel Worte machen, das stillt den Hunger der Seele nicht.“[viii] Das ist exakt die Position Rilkes im „Stunden-Buch“ – und diese will er mitnehmen, wenn er nun in Paris ganz anders schreiben wird. Aber auch die Gegenposition soll präsent bleiben, sie muss das beeinflussen, was jetzt an Neuem entstehen soll. Das Paradox, so weiß er, gilt es auszuhalten, ebenso wie den Widerspruch zwischen Wissen und Glauben.
Auch Lou erfährt von diesem ihn beherrschenden Widerspruch, wenn er gleichzeitig über Göttingen als einem kleineren deutschen Universitätsort spricht, der einen wohltuenden Einfluss auf ihn haben könnte (mit Lou in der Nähe!), der Brief vom 13. Mai 1904 jedoch mit einer prinzipiellen Absage an die ´Bildung an sich´ anhebt: Universitäten haben mir ja bis jetzt jedesmal so wenig gegeben; in meinem Gefühl ist soviel Abwehr gegen ihre Art. ...dass ich, unter Büchern allein gelassen, ein Hülfloser bin, ein Kind, das man wieder herausführen muss, hält mich jedesmal auf, macht mich bestürzt, traurig, rathlos.[ix]
Von intellektuellen Männerrunden, wo mit Zitaten umhergeworfen, mit Belesenheit geglänzt wird, fühlt sich Rilke ausgeschlossen. Er bekennt, Männer sehe er nur ihm unverständliche Aktionen machen Frauen dagegen rührten ihn.
Dieses Gefühl des Ausgeschlossen-Seins, anders zu sein als die anderen, beherrscht ihn seit der Kindheit. Darin gründet auch jene Einsamkeit, die Rilke, um ihr nicht zu erliegen, rühmen muss.
Das dritte Buch, „Von der Armuth und vom Tode“, wendet sich explizit Franz von Assisi und der von ihm gelebten Armut zu. Und gleichzeitig wird darin ein Thema sichtbar, das für ihn hier in Paris bestimmend werden wird, ohne das etwa „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ nicht denkbar sind: die Frage nach der Stellung des Todes zum Leben. Im „Stunden-Buch“ ist es als eine inständige Bitte formuliert: O Herr, gib jedem seinen eignen Tod ... Rilke spricht vom kleinen Tod als einer Frucht, die nicht reift. Der Gegensatz dazu ist der große Tod, das sei die Frucht, um die sich alles dreht.[x]
Für Rilke ist klar, ohne einen eigenen Tod geht ein Leben nicht erfüllt zu Ende. Aber wer hat schon noch einen eigenen Tod? Diese Frage wird er, nicht in Gebetform, sondern kühl analysierend in den „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ zu beantworten versuchen.
Das „Stunden-Buch“ endet mit der Verklärung der Armut: Denn Armut ist ein großer Glanz aus Innen ...[xi] Das hat bei sozialpolitisch gestimmten Naturen Befremden ausgelöst. Gilt es nicht die Armut zu überwinden, statt sie derart als großen Glanz aus Innen festzuschreiben? Aber dieser Einwand verkennt Rilkes Intention. Dass man Armut beseitigen solle, wo es nur geht, dem wird er – nicht zuletzt in eigener Sache – jederzeit zustimmen. Aber dass Armut nicht gleichbedeutend mit Elend sein muss, dass sie – wo sie ihre Würde wahrt – Achtung und nicht Mitleid verdient, ist das, worum es Rilke hier geht. Armut im Sinne Franz von Assisis ist eine freie Entscheidung gegen den Besitz, gegen das Geld! Davon zeugt das Leben Franz von Assisis, dem Rilke sogar eine Monographie widmen wollte. Aber da er sich just zu dieser Zeit entschied, keinesfalls mehr um des bloßen Broterwerbs zu schreiben, sondern nur noch das, was seiner dichterischen Mission notwendig sei, blieb sie ungeschrieben.
Doch am Ende des „Stunden-Buchs“ finden sich Spuren dieses ungeschriebenen Buches über Franz von Assisi, der den Heiligen und den Ketzer in sich vereinigte: O wo ist der, der aus Besitz und Zeit / zu seiner großen Armut so erstarkte, / daß er die Kleider abtat auf dem Markte / und bar einherging vor des Bischofs Kleid.[xii] (Dies bezieht sich auf den authentischen Moment in Franz´ Leben, wo er sein bürgerliches Kleid auszieht und nackt vor dem Bischof steht - bereit für ein neues Leben.)
Allerdings ist Rilke dabei nicht immer stilsicher – dann, wenn er sich von Sentimentalität überwältigen lässt. Das betrifft nicht nur die Schlusswendung des „Stunden-Buchs“ von Armut großer Abendstern,[xiii] sondern auch einige Reimereien, die er sich jetzt in Paris nicht mehr durchgehen lassen wird. Und nun stehen sie hier direkt nebeneinander. Einerseits auf den bloßen Reim hingeschriebene Verse, wie dieser: und du: du bist aus dem Nest gefallen / bist ein junger Vogel mit gelben Krallen / und großen Augen und tust mir leid. / (Meine Hand ist viel zu breit.)[xiv] Auf der anderen Seite steht Rilkes frappierend genauer Sinn für atmosphärische Veränderungen in der Zeit, für geistige Umbrüche, von dem bereits im 1899 entstandenen ersten Teil des „Stunden-Buchs“ zu lesen ist: Ich lebe grad, da das Jahrhundert geht.[xv]
Rilke ahnt, dass sich die Grundkoordinaten der Welt gerade dabei sind, dramatisch zu verändern. Was bedeutet das für die Frage nach Gott, und die Sprache der Dichtung? In einem berühmten Brief an Lotte Heppner aus München vom 8. November 1915, mitten im Ersten Weltkrieg geschrieben, lesen wir: "Wie ist es möglich zu leben, wenn doch die Elemente dieses uns völlig unfasslich sind?" Es gibt keinen Sinn, das tradierte Sinn-Gefäß ist zerbrochen, es gibt nur noch Sinn-Splitter, die es aufzulesen - und vielleicht neu zusammen zu setzen gilt. Er schreibt weiterhin über Tolstois "Tod des Iwan Iljitsch: "...gerade deshalb konnte dieser Mensch so tief, so fassungslos erschrecken, wenn er gewahrte, dass es irgendwo den puren Tod gab, die Flasche voll Tod oder diese häßliche Tasse mit dem abgebrochenen Henkel und der sinnlosen Aufschrift "Glaube Liebe Hoffnung", aus der einer Bitternis des unverdünnten Todes zu trinken gezwungen war." Das klingt wahrlich nach einer Stimme mitten aus dem großen Krieg, der nicht nur Leben und Städte vernichtet, sondern auch den Worten ihren Sinn nimmt.
In "Der Brief des jungen Arbeiters" dann, einem fiktiven Brief, im Februar 1922 auf Schloss Muzot im Schreibrausch zwischen der zehnten und fünften Duineser Elegie geschrieben, heißt es bündig: "Es treibt mich zu sagen: Wer, ja, - anders kann ich es nicht ausdrücken, w e r ist denn dieser Christus, der sich alles einmischt." Das klingt nach schroffer Ablehnung des Christentums - und das ist es auch. Die Einschränkung, die er jetzt noch macht, betrifft nur Franz von Assisi, der glaubwürdig ist in seiner Lebenbejahung, die den Tod nicht scheut, aber diesen nicht gegen das Leben stellt: "Das Hiesige recht in die Hand zu nehmen, herzlich liebevoll, erstaunend, als unser, vorläufig. Einziges: das ist zugleich, es gewöhnlich zu sagen, die große Gebrauchsanweisung Gottes, d i e meinte der heilige Franz von Assisi aufzuschreiben in seinem Lied an die Sonne, die ihm im Sterben herrlicher war als das Kreuz, das ja nur dazu da stand, in die Sonne zu w e i s e n."
Das Feindbild: die Kirche und ihre Macht, die aus Dogmen und Institution erwächst. Rilke in seinem "Brief des jungen Arbeiters": "Hier ist der Engel, den es nicht giebt, und der Teufel, den es nicht giebt; und der Mensch, den es giebt, ist zwischen ihnen, und, ich kann mir nicht helfen, ihre Unwirklichkeit macht ihn mir wirklicher."
Warum reist Rilke im November 1912 nach Spanien? Er will El Grecos Bilder sehen und die Stadt, in der sie entstanden. Im Jahr zuvor hatte er in München bereits El Greco-Gemälde gesehen, die ihm in ihrer Ausdruckswucht unvergleichlich schienen.
Aber noch etwas anderes lässt ihn so plötzlich zu dieser Reise aufbrechen, etwas Absurdes, geradezu Lächerliches. Ende September, Anfang Oktober hat Rilke auf Duino an mindestens zwei Séancen teilgenommen, die Marie von Thurn und Taxis veranstaltete. Die Prokolle dieser Séancen legt sie Rilke in einem Brief vom 3. Oktober bei. Eine „Unbekannte“ tritt darin auf und gibt nebulös formulierte Antworten auf wie bei einer Quiz-Show klingende Fragen. Der Kontakt mit der Welt der Toten hat etwas Bizarres, geradezu etwas von einem Puppentheater, in dem alle vom Kasper etwas Genaues wissen wollen und dieser so ungenau wie möglich antwortet. Das Ergebnis liest sich dann so vorhersehbar blumig wie schlechte Lyrik.
Auf diesen fünfzehn Seiten Gespenster-Protokoll findet sich auch der Name Toledo, ein Ort, der Antwort auf drängende Fragen geben soll. Es ist die – verworrene – Rede von einer Brücke, die man suchen solle. „Auf der Brücke schaue hin, dann wirst du mich fühlen.“[xvi]
Ein makabres Spiel zur Unterhaltung auf dem einsamen Schloss? Das auch, aber Rilke lässt sich erstaunlicherweise auf diese Trivialvariante des Lebens der Toten ein, nimmt die Szenerie wenigstens halbwegs ernst. So ernst immerhin, dass er kurz darauf tatsächlich nach Toledo aufbricht. Von der Entstehung der „Weißen Fürstin“ wissen wir, dass Rilke immer mal wieder, besonders in depressiven Phasen, Momente hatte, wo er geisterhafte Gestalten erblickte, die ihm Angst machten.
Rilke, der im „Stunden-Buch“ noch betete, wenn er dichtete, hat sich inzwischen völlig aus jedem christlichen Deutungshorizont befreit. Das zeigt sich bei verschiedenen Anlässen, etwa seiner Reise nach Córdoba und Sevilla. Aus Ronda schreibt er am 17. Dezember 1912 an Marie von Thurn und Taxis einen langen Brief, in dem es auch um Spanien als katholisches Land geht. Er sei hier von einer beinah rabiaten Antichristlichkeit, gesteht er ihr. Diese Entleerung eines einst starken Gefühls! Jetzt ist hier eine Gleichgültigkeit ohne Grenzen, leere Kirchen, vergessene Kirchen, Kapellen, die verhungern, – wirklich man soll sich länger nicht an diesen abgegessenen Tisch setzen ... Die Frucht ist ausgesogen, da heißts einfach, grob gesprochen, die Schalen ausspucken.
Stattdessen lese er jetzt den Koran – die Art, wie der spanische Katholizismus hier die einstigen Moscheen überbaute, stößt ihn ab. In diesem langen Brief versteigt sich Rilke sogar zu einem Vergleich, dem ihm christlich gestimmte Leser übel genommen haben. Das Gebet wird darin zum Telephon „Christus“, in das fortwährend hineingerufen wird: „Holla wer dort?“, und niemand antwortet.[xvii]
Man könnte dem mit etwas Bosheit hinzufügen, dass dies das Gebet von einer bloßen Geisterbeschwörung unterscheidet, wie sie Rilke in seiner Séance auf Duino erlebt hatte. Wer will schon solch offensichtlich trashige Antworten auf die tiefsten Fragen seiner Existenz erhalten?
Rilkes Telefon-Vergleich ist überspitzt formuliert und erschöpft das Thema Christus keineswegs. Aber Rilke sieht sich hier in Spanien mit einer Übermacht an traditionellem Katholizismus konfrontiert, auf die er als katholisch getaufter Prager – der aus der Kirche austrat – nur mit reflexartiger Abwehr reagieren kann. Er weiß sich dabei an der Seite El Grecos, dieses Malers einer völlig neuen Art von Apokalypse.
El Grecos „Laokon“ von 1610 hatte er in München gesehen, und seitdem lässt ihn dessen Bild von Toledo nicht mehr los. Welch expressive Kraft, die die Grenzen eines Kunstwerks sprengt, tritt ihm hier entgegen!
Von Duino aus also reist er im Herbst 1912 nach Toledo, nicht ohne zuvor seinem Verleger Anton Kippenberg diese Unternehmung zu begründen. Er wolle nicht wie ein Tourist reisen, schnell etwas sehen und dann weiter, sondern gedenke sich in Toledo niederzulassen. Er habe vor, sich mit El Greco zu befassen, der zu den größesten Ereignissen meiner letzten zwei oder drei Jahre gehört.
Großes erhofft er sich, erwartet die Erschütterung, die ihn anders sehen, anders schreiben lässt: Vielleicht übertreibe ich: aber mir will scheinen, als ob diese Reise von ähnlicher Bedeutung für meinen Fortschritt sein würde, wie es einst die russische war ...[xviii]
Am 4. Dezember, da ist Rilke genau vier Wochen in Toledo gewesen, schreibt er an Marie von Thurn und Taxis, nun sei er nach Sevilla weitergereist, eine Stadt, von der er nichts erwartet habe, und sie giebt mir auch weiter nichts; wir haben einander nichts vorzuwerfen[xix].
Spanien, das ist eben kein süßer Traum vom Süden, sondern harte Realität, die mit einem zwiespältigen Erbe von Macht und Gewalt zu tun hat – im Namen des Christentums.
Kann der geniale Maler El Greco diese Wucht, mit der die Wirklichkeit über ihn hereinbricht, in einem bezwingenden Bild kontern? Ja, aber auf eine erschreckend nüchterne Weise, wie Rilke bemerkt: Übrigens ja, ich sah noch viel Greco in Toledo, mit immer mehr Einsicht und immer reinerer Ergriffenheit; ganz zum Schluss die Himmelfahrt in San Vicente: ein großer Engel drängt schräg ins Bild hinein, zwei Engel strecken sich nur, und aus dem Überschuss von alldem entsteht purer Aufstieg und kann gar nicht anders. Das ist Physik des Himmels.[xx]
Man fragt sich, was hat Rilke überhaupt mit Spanien abzumachen? Nichts, es geht gar nicht um Spanien und seinen martialisch hochgerüsteten Katholizismus, vor dessen Überresten Rilke wie vor einer entseelten Ruinenlandschaft steht, es geht um ihn selbst: Ich sage Ihnen, Fürstin (nein, nein, Sie müssen mirs glauben), es muß mit mir anders werden, von Grund aus, von Grund aus, sonst sind alle Wunder der Welt umsonst.[xxi]
Rilke sieht Europa vor einer großen Erschütterung stehen, einer Katastrophe gar und fragt sich, wozu ein Krieg gut sein soll. Zu nichts, denn er bringt nur Zerstörung. In Ronda habe ihn dann ein übermächtiges Gefühl von Angst überfallen, die nicht weichen wolle.
Rilke steht im Banne einer Depression, einer übermächtigen Vernichtungsdrohung. Spanien hat etwas, das ihn krank macht, auch wegen der abgründig-dunklen Bilder, die es in ihm weckt. Die sind nicht von gestern, eher von morgen. Auch das zeigt ihm der Visionär El Greco – und Rilke wird das Gesehene weiter in sich tragen, es Schritt für Schritt in innere Bilder verwandeln, bis fast ein Jahrzehnt später, als er die Duineser Elegien beendet, diese Bilderwelt in den Duineser Elegien über ihn kommt. Und das wie immer, wenn er Vergangenheitstiefes auf neue Art zu sagen hat: wie unter Diktat.
Auch bei El Greco ist der Engel schrecklich, gewiss, aber was folgt für Rilkes Zukunft daraus? In sein Tagebuch wird er am 14. Januar 1913 notieren: Möglicherweise ist es meine nächste Stufe, dies zu lernen; die Realität der Engel nach der Realität der Gespenster. Der Engel bei El Greco sei nicht mehr anthropomorph wie das Thier in der Fabel, auch nicht mehr das ornamentale Geheimniszeichen des byzantinischen Gottesstaates.
In diesem Engel erst übertreffe der Engel den Vogel: nicht daß er fliegt ist ihm entscheidend, denn der Flug ist auf beiden Seiten begrenzt, ein Intervall des Aufruhens; er streckt sich sinnlich ins Übersinnliche, nur das Strecken ist unaufhörlich, parallel, hat seinen Anfang und entgeht in die Unendlichkeit.[xxii]
Im Februar 1913 verlässt Rilke Ronda, er fühlt sich krank, und das will er nicht allein aufs schlechte Wetter schieben, das hier herrscht und ihn frieren lässt. Nein, er friert in gleichsam metaphysischer Hinsicht. Der alte christliche Glaube lässt sich nicht wiedererwecken, das ist ihm längst klar. Aber kann der Mensch ohne Religion, ohne die Frage nach Gott leben? Nicht, wenn er die Wahrheit über sich sucht, als Sterblicher angesichts der darüber höchst gleichgültigen Ewigkeit.
Diese tödliche Einsicht, dass unser Schicksal nicht sonderlich schwer wiegt in dieser Welt, die nicht bloß die sichtbare ist, arbeitet seit Spanien in Rilke. Innen und Außen, das ist ein Drama, das es erst zu begreifen und dann zu gestalten – und somit zu ertragen – gilt.
Darüber schreibt er mitten im Ersten Weltkrieg aus München am 27. Oktober 1915 an Ellen Delp: ... Erscheinung und Vision kamen gleichsam überall im Gegenstand zusammen, es war in jedem eine ganze Innenwelt herausgestellt, als ob ein Engel, der den Raum umfaßt, blind wäre und in sich schaute. Diese nicht mehr vom Menschen aus, sondern im Engel geschaute Welt, ist vielleicht meine wirkliche Aufgabe ...[xxiii]
Da sind wir dann beim Engel der Duineser Elegien, der kein christlicher Engel ist, sondern ganz Rilkes Engel, über den er sagt: "Ein jeder Engel ist schrecklich." Das findet sich in der ersten Elegie. Aber auch die zweite hebt als Wiederholung an: "Jeder Engel ist schrecklich." Rilkes Engel sind keine Mittler mehr zwischen Himmel und Erde, keine Himmelsboten, sondern "fast tödliche Vögel der Seele", Türwächter der Dichtung. In der ersten Elegie heißt es: "Engel (sagt man) wüßten oft nicht, ob sie unter Lebenden gehn oder Toten." Seinem polnischen Übersetzer Witold Hulewicz schreibt er am 13. November 1925 zur Erklärung: "Der Engel der Elegien ist dasjenige Geschöpf, in dem die Verwandlung des Sichtbaren in Unsichtbares, die wir leisten, schon vollzogen scheint... Der Engel der Elegien ist dasjenige Wesen, das dafür einsteht, im Unsichtbaren einen höheren Rang der Realität zu erkennen. Daher ´schrecklich´ für uns, weil wir, seine Liebenden und Verwandler, doch noch am Sichtbaren hängen. Alle Welten des Universums stürzen sich ins Unsichtbare, als in ihre nächsttiefere Wirklichkeit."
Das ist dann die neue Realität, ebenso anonym wie unsichtbar. Ohne Grenzen, doch uns gefangensetzend:
Das existenzialistische Programm des 20. Jahrhunderts, den Schrecken des ersten Weltkriegs, die Trümmer des alten Europas im Rücken:
So hebt die erste Duineser Elegie an, die - das zeigt Rilke als Visionär - bereits 1912 auf Duino geschrieben wurde:
Wer, wenn ich schriee, hörte mich den aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.
Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf
dunkelen Schluchzens. Ach, wen vermögen
wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht,
und die findigen Tiere merken es schon,
daß wir nicht sehr verlässlich zu Haus sind
in der gedeuteten Welt.
[i] Rilke, Briefe an Karl und Elisabeth von der Heydt, 246
[ii] Ingeborg Schnack, Rilke-Chronik, 230
[iii] Angelus Silesius, Der cherubinische Wandersmann, 2
[iv] Rilke, Das Stunden-Buch, 12
[v] ebd., 7
[vi] ebd., 26
[vii] Ernst Barlach, Briefe I, 492
[viii] Thomas von Kempen, Nachfolge Christi, 14
[ix] Rilke / Lou Andreas-Salomé, Briefwechsel, 164
[x] Rilke, Stunden-Buch, 86
[xi] ebd., 94
[xii] ebd., 101
[xiii] ebd., 102
[xiv] ebd., 18
[xv] ebd., 10
[xvi] Rilke / Marie von Thurn und Taxis, Briefwechsel, Bd. 2, 903
[xvii] Rilke, Briefe (Hg. H. Nalewski), Bd. 1, 448
[xviii] Rilke / Anton Kippenberg, Briefwechsel, Bd. 1, 351
[xix] Rilke / Marie von Thurn und Taxis, Briefwechsel, Bd. 1, 240
[xx] ebd., 241
[xxi] Rilke / Marie von Thurn und Taxis, Briefwechsel, Bd. 1, 247
[xxii] Rilke, Tagebuch, in: Rilke in Spanien, 91
[xxiii] Rilke, Briefwechsel mit Regina Ullmann und Ellen Delp, 91
Schauspielerin. Julia kann dreiviertel Stunden auswendig Rilke Gedichte vortragen. Vortragen ist ein zu harmloser Begriff, - sie trägt den Rilke mitten ins Herz hinein. Also nicht "vortragen", sondern "hineintragen". Geboren in Wien, Österreich als Tochter eines Schauspielers und einer Dolmetscherin. Sie steht seit ihrer frühesten Kindheit auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Nach Abschluss ihres Schauspielstudiums an der Hochschule für Musik und Theater des Saarlandes spielt sie über 15 Jahre auf den verschiedensten Bühnen Deutschlands und Österreichs (Staatstheater Saarbrücken, Stadttheater Kiel, Ensembletheater Wien, Schauspielhaus Salzburg…) und in Film und Fernsehen ( ARD/ ORF/ arte…)
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn. Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, und ich kreise jahrtausendelang; und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang.
Wir dürfen dich nicht eigenmächtig malen, du Dämmernde, aus der der Morgen stieg. Wir holen aus den alten Farbenschalen die gleichen Striche und die gleichen Strahlen, mit denen dich der Heilige verschwieg. Wir bauen Bilder vor dir auf wie Wände; so daß schon tausend Mauern um dich stehn. Denn dich verhüllen unsre frommen Hände, sooft dich unsre Herzen offen sehn.
Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden, in welchen meine Sinne sich vertiefen; in ihnen hab ich, wie in alten Briefen, mein täglich Leben schon gelebt gefunden und wie Legende weit und überwunden. Aus ihnen kommt mir Wissen, daß ich Raum zu einem zweiten zeitlos breiten Leben habe. Und manchmal bin ich wie der Baum, der, reif und rauschend, über einem Grabe den Traum erfüllt, den der vergangne Knabe (um den sich seine warmen Wurzeln drängen) verlor in Traurigkeiten und Gesängen.
Du, Nachbar Gott, wenn ich dich manches Mal in langer Nacht mit hartem Klopfen störe, – so ists, weil ich dich selten atmen höre und weiß: Du bist allein im Saal. Und wenn du etwas brauchst, ist keiner da, um deinem Tasten einen Trank zu reichen: ich horche immer. Gib ein kleines Zeichen. Ich bin ganz nah. Nur eine schmale Wand ist zwischen uns, durch Zufall; denn es könnte sein: ein Rufen deines oder meines Munds – und sie bricht ein ganz ohne Lärm und Laut. Aus deinen Bildern ist sie aufgebaut. Und deine Bilder stehn vor dir wie Namen. Und wenn einmal das Licht in mir entbrennt, mit welchem meine Tiefe dich erkennt, vergeudet sichs als Glanz auf ihren Rahmen. Und meine Sinne, welche schnell erlahmen, sind ohne Heimat und von dir getrennt.
Wenn es nur einmal so ganz stille wäre. Wenn das Zufällige und Ungefähre verstummte und das nachbarliche Lachen, wenn das Geräusch, das meine Sinne machen, mich nicht so sehr verhinderte am Wachen – Dann könnte ich in einem tausendfachen Gedanken bis an deinen Rand dich denken und dich besitzen (nur ein Lächeln lang), um dich an alles Leben zu verschenken wie einen Dank.
Du Dunkelheit, aus der ich stamme, ich liebe dich mehr als die Flamme, welche die Welt begrenzt, indem sie glänzt für irgendeinen Kreis, aus dem heraus kein Wesen von ihr weiß. Aber die Dunkelheit hält alles an sich: Gestalten und Flammen, Tiere und mich, wie sie's errafft, Menschen und Mächte – Und es kann sein: eine große Kraft rührt sich in meiner Nachbarschaft. Ich glaube an Nächte.
Ich glaube an alles noch nie Gesagte. Ich will meine frömmsten Gefühle befrein. Was noch keiner zu wollen wagte, wird mir einmal unwillkürlich sein. Ist das vermessen, mein Gott, vergib. Aber ich will dir damit nur sagen: Meine beste Kraft soll sein wie ein Trieb, so ohne Zürnen und ohne Zagen; so haben dich ja die Kinder lieb. Mit diesem Hinfluten, mit diesem Münden in breiten Armen ins offene Meer, mit dieser wachsenden Wiederkehr will ich dich bekennen, will ich dich verkünden wie keiner vorher. Und ist das Hoffart, so laß mich hoffärtig sein für mein Gebet das so ernst und allein vor deiner wolkigen Stirne steht.
Ich bin auf der Welt zu allein und doch nicht allein genug, um jede Stunde zu weihn. Ich bin auf der Welt zu gering und doch nicht klein genug, um vor dir zu sein wie ein Ding, dunkel und klug. Ich will meinen Willen und will meinen Willen begleiten die Wege zur Tat; und will in stillen, irgendwie zögernden Zeiten, wenn etwas naht, unter den Wissenden sein oder allein.
Ich will dich immer spiegeln in ganzer Gestalt, und will niemals blind sein oder zu alt, um dein schweres schwankendes Bild zu halten. Ich will mich entfalten. Nirgends will ich gebogen bleiben, denn dort bin ich gelogen, wo ich gebogen bin. Und ich will meinen Sinn wahr vor dir. Ich will mich beschreiben, wie ein Bild das ich sah lange und nah, wie ein Wort, das ich begriff, wie meinen täglichen Krug, wie meiner Mutter Gesicht, wie ein Schiff, das mich trug durch den tödlichsten Sturm.
Du siehst, ich will viel. Vielleicht will ich alles: das Dunkel jedes unendlichen Falles und jedes Steigens lichtzitterndes Spiel. Es leben so viele und wollen nichts und sind durch ihres leichten Gerichts glatte Gefühle gefürstet. Aber du freust dich jedes Gesichts, das dient und dürstet. Du freust dich aller, die dich gebrauchen wie ein Gerät. Noch bist du nicht kalt, und es ist nicht zu spät, in deine werdenden Tiefen zu tauchen, wo sich das Leben ruhig verrät.
Daraus, daß einer dich einmal gewollt hat, weiß ich, daß wir dich wollen dürfen. Wenn wir auch alle Tiefen verwürfen: wenn ein Gebirge Gold hat und keiner mehr es ergraben mag, trägt es einmal der Fluß zutag, der in die Stille der Steine greift, der vollen. Auch wenn wir nicht wollen: Gott reift.
Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz, an dem wir reiften, da wir mit ihm rangen; du großes Heimweh, das wir nicht bezwangen, du Wald, aus dem wir nie hinausgegangen, du Lied, das wir mit jedem Schweigen sangen, du dunkles Netz, darin sich flüchtend die Gefühle fangen. Du hast dich so unendlich groß begonnen an jenem Tage, da du uns begannst, – und wir sind so gereift in deinen Sonnen, so breit geworden und so tief gepflanzt, daß du in Menschen, Engeln und Madonnen dich ruhend jetzt vollenden kannst. Laß deine Hand am Hang der Himmel ruhn und dulde stumm, was wir dir dunkel tun.
Du kommst und gehst. Die Türen fallen viel sanfter zu, fast ohne Wehn. Du bist der Leiseste von allen, die durch die leisen Häuser gehn Man kann sich so an dich gewöhnen, daß man nicht aus dem Buche schaut, wenn seine Bilder sich verschönen, von deinem Schatten überblaut; weil dich die Dinge immer tönen nur einmal leis und einmal laut. Oft wenn ich dich in Sinnen sehe, verteilt sich deine Allgestalt; du gehst wie lauter lichte Rehe, und ich bin dunkel und bin Wald. Du bist ein Rad, an dem ich stehe: von deinen vielen dunklen Achsen wird immer wieder eine schwer und dreht sich näher zu mir her, und meine willigen Werke wachsen von Wiederkehr zu Wiederkehr.
Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht, dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht. Aber die Worte, eh jeder beginnt, diese wolkigen Worte sind: Von deinen Sinnen hinausgesandt, geh bis an deiner Sehnsucht Rand; gib mir Gewand. Hinter den Dingen wachse als Brand, daß ihre Schatten ausgespannt immer mich ganz bedecken. Laß dir alles geschehn: Schönheit und Schrecken. Man muß nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste. Laß dich von mir nicht trennen. Nah ist das Land, das sie das Leben nennen. Du wirst es erkennen an seinem Ernste. Gieb mir die Hand
Sie hat eine spannende Biografie über Lou Andreas-Salomé geschrieben - "Der bittersüße Funke ICH". Decker absolvierte nach der Schulzeit eine Ausbildung zur Verkäuferin. Später studierte sie an der Universität Leipzig Journalistik und an der Humboldt-Universität zu Berlin u. a. Philosophie. 1994 schloss sie dieses Studium mit einer Dissertation ab. Anschließend bekam sie eine Anstellung bei der Zeitung Der Tagesspiegel. Später war sie auch Kolumnistin und Kritikerin bei der taz.
Von Kerstin Decker
Natürlich sind Dichter nur schwer ohne Bezug auf das andere Geschlecht denkbar, und das Liebesgedicht darf schließlich beinahe als Hauptgenre gelten. Wer sich da nicht bewährt, kommt als Dichter kaum in Betracht. Wobei wir schon bei der Frage sind: Was ist Dichtung? Und vielleicht teilen Sie die Antwort: Solange ich nicht danach gefragt werde, weiß ich es, wenn ich danach gefragt werde, kann ich es nicht sagen. Zumindest nicht mit Sicherheit. Nun, wir haben ein ganzes Wochenende lang Zeit, diese Frage zu klären. Und Rainer Maria Rilke ist wiederholt zum Idealtypus, geradezu zur Verkörperung der vielleicht seltsamsten Lebensform auf Erden, nämlich des Dichters, erklärt worden. Also halten wir fest: Die Frau ist zentral.
Aber ebenso fallen uns sofort fraglose Dichter ein, die kaum als Verfasser von Liebeslyrik anzusprechen sind, ja, die den Kontinent der Frau niemals wirklich betreten haben, ich denke an Stefan George - vielleicht Rilkes größter lebender Dichterrivale, grundverschieden vom geistigen Typus her - und natürlich Friedrich Nietzsche. An dieser Stelle wäre vielleicht gleich zu sagen: Nietzsche ist immer mitzudenken. Die um 1875 Geborenen stehen unter übermächtigem Nietzscheeinfluss, sie inhalieren ihn gewissermaßen mit jedem geistigen Atemzug, er liegt in der Luft, zumal für die Jungen.
Die wichtigste Frau im Leben eines jeden Menschen ist wohl die Mutter. Und da stoßen wir gleich auf eine große Schwierigkeit. Rainer Maria Rilke hat seine Mutter nicht geliebt, ja er hat lebenslang mit seiner Mutter gerungen, genauer: mit ihrem Schattenbild. Phia Rilke war ihm der unwillkommenste Mensch auf Erden. Sie habe ihm seine Kindheit verdorben, so dass er meinte, er müsse seine ganze Dichtung aufbieten, um noch einmal Mensch zu werden, diesmal ohne ihren Einfluss, er müsse seine Kindheit noch einmal leisten. Im Wort. Und diese Dichtung ist voll von schlimmen Mutter-Bildern, in einer frühen Erzählung etwa kommt ein todkranker Sohn zurück nach Hause, zu seiner Mutter, und sie schafft es, den Sohn erst recht zu Tode zu bringen. Nicht durch mangelnde Fürsorge, sondern allein durch ihr bloßes So-sein, durch ihr bloßes Dasein. Also durch das, wofür ein Mensch eigentlich nichts kann, was nicht leicht zu ändern ist. Und so schrecklich ist es zu denken: Rilke wird auch zum Dichter dadurch, diesem eigentlich Nicht-Benennbaren der Abstoßung Worte zu finden. Atmosphärisches entzieht sich gewöhnlich dem benennenden Zugriff der Sprache, zumindest büßt es darin seine eigentliche Natur ein, für Rilke aber kommt es darauf an, dieses Atmosphärische durch Sprache wieder zu erzeugen.
Im frühen Band "Mir zur Feier" (1899) steht ein Gedicht, in dem die Mutter arme Heilige aus Holz beschenkt. Die letzte Strophe lautet: "Aber meine Mutter kam / ihnen Blumen zu geben. / Meine Mutter die Blumen nahm / alle aus meinem Leben." Das ist - neben sehr süßlichen Gedichten - schon richtiger Rilke-Ton.
Sie mögen sich nun fragen, was für ein Monstrum war diese Phia Rilke? Die Antwort lautet: Sie war keins. Sie hat ihr Kind nicht vernachlässigt, allerdings war Rilke das Kind einer unglücklichen Ehe, der sich die Mutter bald entzog. Diese Dissonanzen gehören zu Rilkes frühen Erfahrungen, wir werden noch darüber reden.
Erstaunlich ist nun Folgendes. Nietzsche hat über seine Kindheit ein vergleichbar bitteres Wort gesprochen wie Rilke, auch er - mehr noch als Rilke - aufgewachsen unter dem übermächtigen Einfluss von Frauen, sagte später: am leidvollsten sei, dass er an seine Kindheit keine willkommenen Erinnerungen habe. Die Konsequenz: Er wendet sich als junger Mann, als Student vollkommen ab von der weiblichen Sphäre, der Kontakt mit Frauen ist ihm gewöhnlich Minderung, Trübung, das Gegenteil der reinen Luft der Männerfreundschaft. Das ist konsequent, bei Sigmund Freund finden Sie eine ähnliche Reaktion. Der Mann kommt zu sich in der Abstoßung vom Mütterlichen, erst so findet er zur Reife, wird erwachsen. Was dann kommt, sind nur noch sexuelle Begegnungen. So ungefähr denkt es zumindest der frühe Freud.
Man spricht heute gern von "Frauenfeindschaft", das ist ein ziemlich naives Wort, es geht ja nicht um willkürlich wählbare Feindschaft, aber er lässt sich schon sagen, dass gerade das späte 19. Jahrhundert eine sehr misogyne Periode war, die dann kulminiert in Otto Weinigers "Geschlecht und Charakter".
Das Seltsame bei Rilke ist nun, er wendet sich trotz des Widerwillens gegen seine Mutter, keineswegs von der weiblichen Sphäre ab, ja mehr noch: er wendet sich der männlichen eigentlich nie richtig zu, zumindest wird er dort keine Heimatrechte erwerben, so wenig wie er als Junge wirkliche Freunde fand. Woran gewiss auch Mutter Phia schuld ist, die ihn in Prag täglich zur Schule brachte und wieder abholte, sie soll dabei vorzugsweise Französisch mit ihm gesprochen haben schon zur Abwehr schlechter Einflüsse.
Vollkommen klar, dass dies das, sagen wir: das Sozialprestige des Schülers René nicht gehoben hat. In der Münchner Zeit schließt er dann aber doch einem Mitstudenten näher an, unterhält viele Kontakte zu Literaten, aber wirkliche Freundschaft wird daraus eigentlich nie. Fast möchte man sagen: Rilke glaubt nicht an den Gott der Männer. Er ist - ich glaube das merkt jeder, der Rilke liest - ein Schoßdenker. Weil er ein falsch Zur-Welt-Gekommener ist?
Schoß. Ursprung. Er ist das Lebengebende und das Vernichtende zugleich. Und er ist das, was alle falschen Trennungen und Entzweiungen wieder zurücknimmt. Aber für einmal Entbundene ist dieser Rückweg versperrt, man muss sich ihm neu nähern. Rilke braucht eine Führerin in dieser Welt, ja man kann sagen: Er sehnt sich nach einer zweiten Mutter, die ihm den Halt gibt, den man braucht.
Ich habe schon manchmal gedacht, was für ein beinahe unglaublicher Zufall es ist, dass sich Friedrich Nietzsche und Lou von Salomé, diese beiden verwandten Geister begegnet sind, sie damals 21 Jahre alt, er 36. Wahrscheinlich gab es unter den Frauen damals nur diese eine, die seinem Denken so entgegenkam. Und eine fast ebensolche Fügung ist es, dass Rainer Maria Rilke 16 Jahre später auf die reifere Lou trifft, noch unglaublicher jedoch, mit welcher Beharrlichkeit er sie verfolgt, die nun wahrlich auf niemanden wartet und die alle Versuche von Männern, sie zu "erobern", wie man damals sagte, entschieden abgewehrt hatte. Diesen Eroberer aber konnte sie nicht recht ernst nehmen, vielleicht war das das Geheimnis seines Erfolgs.
Ein durchaus sehr schätzenswerter Rilke-Biograf schildert das erste Zusammentreffen der beiden so: "Als er sie Anfang Mai 1897 beim Tee in Wassermanns Wohung kennenlernte, ist Lou (Luise) von Salomé eine vollerblühte Blondine von 36, die auf eine abenteuerliche Jugend zurückblicken kann". Das "vollerblüht" bezieht sich selbstredend auf ihr Äußeres, Frauen bringen es nur zur Reife im mehr botanischen Sinne, an anderes kann auch dieser sonst so kluge Mann nicht denken. Und in einer neueren Veröffentlichung heißt es gar. "Lou Andreas-Salomé warf die Reife ihrer sechsunddreißig Jahre in die Waagschale und ihren Status als Ehefrau eines renommierten Gelehrten." Ja, was sind das denn für Empfehlungen?
Niemand scheint zu bemerken, dass diese Frau, schon als sie Nietzsche traf, eine geistige Biographie hatte, wie sie viele in ihrem ganzen Leben nicht haben. Und dass genau das nicht nur ein Vorwand war, sondern der eigentliche Grund, sich ihr so entschlossen zu nähern. Den Rilke hatte gerade auf der Spur Nietzsches seine bis dato reifsten Gedichte geschrieben, die er selber nicht recht verstand. Wir haben jetzt Pfingsten, also versetzen wir uns in die unmittelbare Vorgeschichte dieses Sprachwunders, sagen wir, bis zu Christi Himmelfahrt. 40 Tage lang irrte der Gekreuzigte und Auferstandene noch über die Erde - und zwar - bei Rilke - als ein von Gott Verratener. Egal, wo er ist, ob auf einem Friedhof oder in München beim Oktoberfest: verlorener als dieser Jesus ist niemand.
Natürlich hat diese Lyrik aus dem Geist Nietzsches eine Rechtfertigung: Seine Mutter hätte sie nie verstanden. Phias süßlicher, Rilke widerwärtiger Frömmigkeit wäre sie wie Blasphemie erschienen. Das Problem war nur: Ihr Schöpfer verstand sie auch nicht. Bis er den Aufsatz "Jesus, der Jude" von Lou Andreas-Salomé gelesen hatte. Auch das eine gute Lektüre zu Pfingsten, wir können sie gern beginnen.
Gottfried Benn - auch er ein großer Dichter, aber von anderer Art als Rilke - hat gesagt, sinngemäß, Männer wollen ohne Zweifel vieles von einer Frau, aber eines ganz bestimmt nicht: von ihr im Geist berührt werden. Rilke wollte genau das, Nietzsche übrigens auch. Dass daraus sehr bald, für beide unverhofft, noch viel mehr wurde, man hat auch von einer amour fou gesprochen, ist in vieler Hinsicht bemerkenswert. So hatte die 36jährige Lou, obgleich verheiratet, noch nie zuvor mit einem Mann geschlafen, den eigenen eingeschlossen. Der Nichtvollzug der Ehe war ihre Bedingung gewesen, in die Ehe mit dem Orientalisten Carl Andreas einzuwilligen. Auch das ist eine Kurzcarakteristik der Lou Andreas-Salomé.
Zwei Gottsucher trafen sich also. Zwei Gottsucher auf atheistischer Grundlage, wie Sie wohl längst ahnen. Schon das ist eine abenteuerliche Kombination.
In der Rilke-Literatur wird oft die Frage gestellt: Konnte dieser Mann wirklich lieben? Die Antwort lautet meistens: Nein, eher nicht, er war ein Narziss. Er war ein Virtuose der Distanzliebe. Der Bezug zum anderen - zu der anderen - diente vor allem der Selbststeigerung. Aber wer die Gedichte an Lou Andreas-Salomé wirklich gelesen hat, weiß es anders. Mehr als die Hälfte der an sie gerichteten Gedichte haben beide gemeinsam vernichtet. Dieses hier blieb erhalten:
Lösch mir die Augen aus: ich kann Dich sehn Wirf mir die Ohren zu: ich kann Dich hören Und ohne Fuß noch kann ich zu Dir gehen Und ohne Mund noch kann ich Dich beschwören. Brich mir die Arme ab: ich fasse Dich Mit meinem Herzen wie mit einer Hand Reiß mir das Herz aus: und mein Hirn wird schlagen Und wirfst Du mir auch in das Hirn den Brand So will ich Dich auf meinem Blute tragen.
Wirkliche Liebe, jeder weiß es, meint ein Übergehen in anderes Sein. Das ist keineswegs komfortabel, es steht ohne Frage in einem gewissen Widerspruch zu unserem Selbsterhaltungstrieb. Wir werden wohl nie wissen, wie viele Menschen, bei aller allgegenwärtigen Liebesrhetorik, das wirklich erleben. Fraglos ist: Rainer Maria Rilke gehörte zu dieser Internationale der Liebenden.
Nun müssen wir nur noch die vielen, vielen anderen Weiblichkeiten in Rilkes Leben erklären, etwa seine Ehefrau Clara, und den unendlichen Zug der Frauen und Mädchen, die folgen. Aber das muss gar nicht mehr heute Abend sein, wir haben schließlich noch ein ganzes Wochenende lang Zeit.
Ich wollte Ihnen die gemeinsame Geschichte von Lou Andreas-Salomé und Rilke erzählen, sehe aber nun, dass im Programmheft die Frage steht: "Wer war Lou Andreas-Salomé?" Das ist natürlich ein etwas anderes Thema, also spreche ich über beide. Die Frage Wer war Lou Andreas-Salomé? lässt sich natürlich recht bündig beantworten, und zwar von einem, der es wissen musste, von dem Lou-Sachverständigen Friedrich Nietzsche. Wir lesen: "Ein Gehirn mit einem Ansatz von Seele ... ohne Fleiß u Reinlichkeit ohne bürgerliche Rechtschaffenheit Grausam versetzte Sinnlichkeit ... Der Begeisterung fähig ohne Liebe zu Menschen, doch Liebe zu Gott Bedürfnis der Expansion Schlau und voll Selbstbeherrschung in Bezug auf die Sinnlichkeit der Männer ohne Gemüth und unfähig der Liebe im Affekt immer krankhaft und dem Irrsinn nahe ... unfähig der Höflichkeit des Herzens". Keine guten Auspizien, sollte man meinen. Diese Lou-Notizen sind aber nicht das Einzige, was Friedrich Nietzsche schreibt in diesem Winter 1882/83, da entsteht noch etwas, das einmal die ganze Welt kennen wird, insofern sie Sinn hat für Philosophie, es ist der erste Teil des Zarathustra. Und man darf behaupten: Ohne die katastrophale Begegnung mit Lou wäre diese seltsame Stück Philosophie nicht entstanden, zumindest nicht in dieser Form und nicht zu diesem Zeitpunkt. Einen Satz aus dem Zarathustra hat wahrscheinlich jeder noch im Ohr: "Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!" Auch das wäre wohl nie geschrieben worden ohne Lou. Wichtig dabei ist: Die Empfehlung für Männer auf Frauenbesuch spricht nicht Zarathustra aus, es handelt sich vielmehr um den Rat eines "alten Weibleins" an den Wanderer Zarathustra, heißt: Immer verraten Frauen Frauen, und das ist die Wahrheit über dieses Geschlecht, so sehr es Irrläuferinnen wie Lou darin geben mag. Heißt letztlich: Das Weib besitzt Sklavennatur. Andererseits hat der Philosoph die junge Frau zu seinem "Geschwistergehirn" ernannt und wird diese Auszeichnung nie zurücknehmen. Da stellt sich die Frage: Womit hat sie die verdient? Arroganz ist natürlich ein enormer erkenntnistheoretischer Vorteil. Man muss schon etwas herausgehoben sein, um wirklich etwas wahrzunehmen. Und so besah das kleine Mädchen mit etwas Herablassung und Langeweile die Frömmigkeitsübungen ihrer Familie. Ihre Familie: das ist die des zaristischen Generals Gustav von Salomé. Der Name deutet auf hugenottische Vorfahren, er ist aber genau wie seine Frau norddeutscher Herkunft. Und nachdem Gustav von Salomé 1830/31 den polnischen Aufstand niederschlug, erhob ihn Zar Alexander II. in den Adelsstand. Die Familie wohnt in Sankt Petersburg dem Winterpalais direkt gegenüber. Was das kleine Mädchen erstaunte, war, dass so stolze Menschen wie ihr Vater und ihre Brüder plötzlich auf die Knie fielen, wenn sie die Hauskapelle betraten. Dieser Wesenswandel, das Devote daran, befremdete sie durchaus. Und warum jemanden anbeten, wenn man sich auch mit ihm unterhalten kann? Und Lolja, wie sie damals gerufen wurde, rekrutierte Gott selbst als ihren Gefährten, ihren Vertrauten. Er war ihr Eigentum. Sie wird es nie anders beschreiben können. Das ist die Urszene. Der Herr ist nichts die Erweiterung ihrer selbst in ihrem kindlichen Werderaum, er ist der ideale Ergänzer, der Spiegel ihrer eigenen Herrlichkeit: Es ist ein großartig blasphemisches Verhältnis, das Unendliche selbst wird zum Spiegel, zum Diener des Endlichen. Das ist eine enorme psychologische Konstellation. Sie wird immer auf der gattungsgeschichtlichen, also der religionsgeschichtlich bedeutsamen Parallele ihres Erlebens beharren. Strindberg: Die schwächsten Charaktere am stärksten im Gebet. Sie hält das für dramatisch unterreflektiert. Sie plädiert für den Effekt ursprünglicher Stärkung. Normalerweise werden Frauen vor dem Spiegel nicht zu Philosophen, aber dieses Mädchen wurde es. Das soll ich sein?, fragte das Kind, als es vor den Spiegelwänden der elterlichen Gemächer stand. So "eingeklaftert", so verurteilt, beim Nächstliegenden einfach aufzuhören? Nichts zeigte der Spiegel von dem Universum, das sie war, dem unendlichen zweipoligen Raum in sich. Auch der zweite Pol, der Herr, ihr Komplize und Mäzen, war im Spiegel nicht zu sehen, obwohl ihr das noch am ehesten einleuchtete. Ja, sie schätzte ihren Gefährten für die Eigenschaft der Unsichtbarkeit. Und wusste: Alle Spiegel lügen. Sie wird diesem Erleben immer auf der Spur bleiben. Und sie wird nie glauben können, dass andere in ihrer Kindheit nicht eine ähnliche Gotteserfahrung gemacht haben wie sie. In der Psychoanalyse bekommt die Sache einen Namen: Narzissmus – Garant einer ungeheuren seelischen Gesundheit und Daseinsgewissheit (die mag ganz und gar illusorisch sein, aber sie macht erst den Menschen). Wer nie den begründeten Eindruck gewonnen hat, dass das Leben für ihn da ist, statt von ihm nur benutzt zu werden, wird nicht stark. Anmerkung: Mädchenerziehung bestand gewöhnlich in der systematischen Vermeidung dieses Eindrucks. Es ist also nur folgerichtig, dass es diese Frau einmal zur Psychoanalyse führen wird, sie wird nicht nur die Schülerin, sondern ebenso die Lehrerin Sigmund Freuds, und gerade über den Stellenwert des Narzissmus wird sie sehr mit ihm streiten. Freud war, wie Sie wissen, ein großer Anhänger der Theorie vom physiologischen Schwachsinn des Weibes - Frauen bringen es in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gemeinhin höchstens bis zum Narzissmus -, aber für diese Frau wird er eine fundamentale Ausnahme machen. Aus einer intakten Unendlichkeit heraus, beginnt natürlich keiner zu denken. Denken fängt an, wenn die Katastrophe bereits eingetreten ist. Darin liegt der Unterschied von Denken und Lernen. Anlässlich einer Schneeschmelze, die dem Mädchen ein Schneemannehepaar nimmt, das es selbst gebaut hat und mit dem es sehr befreundet ist, macht sie die Erfahrung der radikalen Endlichkeit. Und das Tauwetter nimmt ihr nicht nur den Schneemann und die Schneefrau, sondern auch ihren engsten Vertrauten, den Herrn selbst. Auch er: bloß eine Illusion. Den folgenden Petersburger Frühling erlebt das Mädchen als Eiszeit. Natürlich geht das Leben weiter, nur ist es nicht mehr unendlich. Irrtümlicherweise bezeichnen die meisten Erwachsenen das klaglose Sich-Einrichten in der schlechten Unendlichkeit als Leben. Sie wird das nie tun. Die Existenzphilosophen würden Lous Kindererleben als Schock der Existenz bezeichnen. Trotzdem pflegen selbst solche Erlebnisse bei den meisten Menschen äußerlich folgenlos zu bleiben. Was die Krisis in ihrem Fall aber akut machte, war, dass Lou irgendwann zum Konfirmationsunterricht geschickt wurde. Selbst Philosophen ertragen solcherart Exerzitien oft ohne besondere Vorkommnisse, den Diagnostiker des Todes Gottes ausdrücklich eingeschlossen. Sie nicht. Lou wird zum ersten Mal konfrontiert mit den Lehrmeinungen der protestantischen Orthodoxie, mit der verstandesmäßigen Gefangensetzung des Herrn, lauter grotesken Irrlehren über die Natur und die Existenzweise Gottes. Am meisten empört sie seine vermeintliche Beweisbarkeit. Damals wird sie, was sie immer bleiben wird: die Anwältin Gottes, allerdings auf atheistischer Grundlage. Es gibt nur einen Weg: Sie muss aus dieser Kirche austreten. Dummerweise hatte ihr Vater, der alte General, den sie sehr liebt, die deutsch-reformierte Kirche in Russland eben erst gegründet, und Gustav von Salomé ist sehr krank, es macht ihn gewiss nicht gesünder, wenn seine Tochter aus seiner Kirche austritt. In dieser ausweglosen Situation nimmt sie mit Hilfe eines holländischen Pfarrers in Sankt Petersburg Zuflucht zur gesamten Geistes- und Religionsgeschichte des Abendlandes. Und lässt sich nicht konfirmieren, weil es eine Lüge wäre. Die Idee dabei ist: Wenn sie nur genau genug studiert, wird sich erweisen lassen, dass der Gott, den sie kannte, der richtige ist, auch wenn er nicht existiert. Und nun komme ich noch einmal zurück auf Nietzsche, Sie werden gewiss alle noch eine Auskunft des Philosophen im Gedächtnis haben: "Gott ist tot." Das Bemerkenswerte daran ist keineswegs die Aussage, dass Gott oder die Götter nicht existieren - solche Befunde gab es durch die Jahrhunderte hinweg immer wieder, und schon lange vor Christi Geburt. Das Bemerkenswerte ist vielmehr der Augenmerk auf das, was dieser Todesfall für uns, für die Gattung bedeutet. Wie überleben wir diesen Mord, den wir selbst begangen haben? Das ist, etwas anders gefasst, genau die Problematik Lous, und jetzt mache ich einen großen zeitlichen Sprung von 1882 - Nietzsches Begegnung mit der jungen Lou von Salomé - ins Jahr 1897. Die vielleicht erste deutsche Intellektuelle hatte ihr Lebensthema unlängst in einem Aufsatz vertieft, der heißt Jesus der Jude. Und ein junger Student hat ihn gelesen, der heißt René Maria Rilke. „Gnädigste Frau, es war nicht die erste Dämmerstunde gestern, die ich mit Ihnen verbringen durfte.“ Wahrscheinlich schaut sie bereits an dieser Stelle des Briefes auf, den ihr ein Bote brachte: Dämmerstunde? Mit ihr? Gestern? Sie kann sich nicht erinnern. Es ist der 13. Mai 1897. Gestern war sie bei Jakob Wassermann. Sie könnte in ihrem Tagebuch nachschauen, der 12. Mai weiß nichts von einem René Rilke. Nie gehört. Und wieso nicht die erste Dämmerstunde? „Da gibt es in meiner Erinnerung eine, die mich arg verlangen machte, Ihnen ins Auge zu sehen.“ Vielleicht liest sie ein wenig ungeduldig weiter, der Absender braucht schon ziemlich viele Sätze, ihr mitzuteilen, dass er ihren Aufsatz Jesus der Jude gelesen hat. Sie hatte ihn bald nach ihrer Rückkehr aus Paris begonnen, das ist nun schon mehr als zwei Jahre her. Sie hat ihn mehrmals umgearbeitet. Sie hält also einen Leserbrief in der Hand, konnte der Leser das nicht gleich sagen? Allerdings hat dieser Leser nicht eigentlich gelesen, sondern ihre Worte kamen in ungewöhnlicher Weise bei ihm an: „Nicht Interesse war es, was mich tief und tiefer in diese Offenbarung führte, ein gläubiges Vertrauen ging mir auf dem ernsten Wege voran, und endlich war es wie ein Jubel in mir, das, was meine Traumepen in Visionen geben, mit der gigantischen Wucht einer heiligen Überzeugung so meisterhaft ausgesprochen zu finden. Das war die seltsame Dämmerstunde, deren ich gestern wieder gedenken musste.“ Was mag ihn so bestätigt haben in ihrem Aufsatz? War es ihr Ungenügen an der Genügsamkeit der Religionswissenschaft, die zufrieden ist zuzuschauen, wie die Menschen sich ihre Götter schaffen? Dabei, sagt sie, ist die andere Seite, die Rückseite gewissermaßen, viel wesentlicher. Denn das eigentlich religiöse Phänomen sei erst gegeben in der Rückwirkung einer, gleichviel wie entstandenen, Gottheit auf den an sie glaubenden Menschen . Also in dem Phänomen eines so gottdurchtränkten Seins, das in keiner anderen Rücksicht als auf seinen Gott zu existiert. Nur höchst selten gelange ein solches Gotteserleben ganz nach außen, und der wohl staunenswürdigste und weltbekannteste dieser Fälle sei Jesus, der Jude. War es diese Sicht auf Jesus, die ihn so bestätigte? Er dichtet neuerdings und wie probeweise auf den Spuren Nietzsches und ist noch etwas unsicher in dieser Disziplin. Oder war es ihre Auskunft, dass das Neue, was die Religionsstifter schaffen, eigentlich nie neue Gottheiten seien als vielmehr eine neue Herzensstellung zu ihnen? Was für eine Doppelbewegung lasse sich da einsehen! Durch einen wie Jesus komme noch einmal, auf der Spitze der Religion, naiv und großartig zu Tage, was von Urbeginn der Zeiten die grobe Basis aller Religion ausmacht: nämlich die faktische Einheit von Göttern und Menschen, - die Tatsache, daß beide gleichen Wesens sind. Theoretisch gesehen aber bleibe das Illusorische des ganzen Prozesses nicht nur bestehen, sondern verstärke sich so ins Unermessliche. Oder war es Jesus‘ Einbettung ins Judentum, ihn gleichsam als dessen konsequentesten Ausdruck zu nehmen – gerade im Fehlen jeder Jenseitserwartung? Sie wissen sicher, dass das traditionelle Judentum gar keine jenseitige Welt kannte. Der Bund Gottes mit seinem Volk war ein Bund fürs Leben, ganz von dieser Welt als der einzig möglichen: Ein Gerechter konnte nicht in Schmach und Schande sterben, dafür musste er nicht einmal der Messias sein, nur eben ein ganz gewöhnlicher Gerechter. Heißt: Indem Jesus am Kreuz starb, war er ein für allemal widerlegt. Das Fazit der Religionsdenkerin lautete: Die – jüdische - Religion in ihrer ganzen Wahrheit und in ihrem ganzen Wahn, verkörpert in einem Menschen, verblutete hier am Kreuze, das seitdem, eigentümlich genug, zum Symbol der Religion geworden ist. Die Entstehung des Christentums selber und das Seelenschicksal Jesu seien weltenfern voneinander. Karl Kerényi hat einmal gesagt, dieser Essay gehöre zu den intimsten der deutschen Geistesgeschichte. Sicher ist, daß der junge Dichter, der in seinen Christusvisionen Jesus nach der Gotteskatastrophe verzweifelt, glaubenslos über die Erde, über Jahrmärkte, über einen Judenfriedhof, sogar durch Venedig irren und einem Maler, einer Waise, einer Nonne begegnen ließ, erst beim Lesen ihres Aufsatzes seine Gedichte wirklich verstand – und zwar in ihrem Anspruch, die von Jesus her gesehen konsequentere Geschichte seiner Auferstehung gegeben zu haben. Er hat die Seelengeschichte Jesu' geschrieben. Denn der kolossale Sinneswandel seiner Jünger, die Neubegeisterung der Verzweifelten, betrifft diesen Jesus nicht mehr. Für ihn gab es kein Pfingsten, am Pfingstsonntag sollte man das ruhig einmal aussprechen. Er weiß nichts davon, und vielleicht sind diese Visionen auch die letzten Träume des verblutenden Jesus am Kreuz. Was für ein sublimer, gewagter Atheismus, der seinen Urheber selbst sehr beunruhigt, ja verstört. Und nun sieht er sich bestätigt, von dieser unglaublichen Frau, die schon Nietzsche kannte. Darum kann der Jungdichter erklären, ihr Essay habe sich zu seinen Gedichten verhalten „wie ein Traum zur Wirklichkeit“. Und dafür wolle er ihr danken. Natürlich, er weiß es, hätte er ihr das alles auch gestern mitteilen können – „bei einer Tasse Thee sagen sich doch so leicht ein paar schöne herzlich bewundernde Worte“ – aber gerade so meine er es eben nicht: „Mir ist immer: wenn ein Mensch einem andern für etwas sehr Theures zu danken hat, soll dieser Dank ein Geheimnis bleiben zwischen Beiden.“ Er wählt seine Worte groß, nicht viel zu groß? Ein Geheimnis also will er mit ihr haben. Nein, er will sogar noch mehr: „Vielleicht ist es mir einmal vergönnt Ihnen eine oder die andere der genannten Visionen vorzulesen.“ Das klingt, als ob er Zeit hätte, aber er hat keine, er kündigt an, sie morgen schon wieder zu treffen, und zwar im Theater. Morgen, also am 14.? Er muss Wassermann gebeten haben, mitkommen zu dürfen. Und dann fällt es ihr auf: Diese Handschrift kennt sie. Sie gefällt ihr nicht, vielleicht deshalb erkennt sie sie wieder. Bisher waren die Briefe von dieser Hand immer anonym zu ihr gekommen. Er ist also da. Einer, der sich nichts so sehr wünscht wie ein solches „ganz und gar unangemessenes Vertrauen zum eigenen Ich“, das ringsum alle zu besitzen scheinen und diese Autorin ohnehin. Das seine ist ein höchst merkwürdiges Ich, vielleicht sogar ein höchst kostbares, das ahnt sein Inhaber längst, nur ist es leider so geartet, dass es ihm wenig vertrauenswürdig erscheint. Sie ist beschäftigt, sie hat viele Freunde, sie gehört zu denen, die nur froh werden, wenn sie arbeiten, und gewiss hat sie wenig Lust, sich die Visionen eines jungen Mannes anzuhören, dessen Worte lauter Formatfehler sind. Aber sie ist eine Sammlerin seltener, kostbarer Ichs. Das ist seine Chance. Er kann sie nicht mehr fortlassen. Wenn es eine Führerin ins Leben, ins Wissen für ihn geben sollte, dann ist es diese Frau. Ist er jünger als sie dachte? Sie war 21, als sie Nietzsche begegnete, er 37. Jetzt ist er 21, sie ist 36. Es wäre diskret, sich nach dem Theater zu verabschieden. Aber das macht er nicht. … bis ½ 2 sehr heiter soupiert; mit Endell und Rilke nach Hause. Gräßlicher Regen . Es regnet die nächsten Tage durch und es ist kalt. Am 17. Mai macht ihr neuer Bekannter ernst. Er liest ihr seine Christus-Visionen vor. Sie notiert genau, wie viele es waren: 5. Mehr sagt sie darüber nicht. Abends geht sie wieder ins Theater, es ist die Parisienne. Er kommt wieder mit. 27. Mai: … dann Rilke bei mir zum Abendbrot, mit den Einaktern. Und wieder: kein Kommentar. Aber das mit ihnen soll kein Einakter werden. Er bereitet den zweiten Akt schon vor. Er schickt ihr „Lieder der Sehnsucht“: Sehnsucht singt: Ich bin Dir wie ein Vorbereiten Und lächle leise, wenn Du irrst; Ich weiß, daß Du aus Einsamkeiten Dem großen Glück entgegenschreiten Und meine Hände finden wirst. Das ist frech. Und doch schon so ganz anders, als alles Dichten bis eben und ringsum. Süßlich, ohne süßlich zu sein, sentimental, ohne sentimental zu sein, nicht papiern, nicht konventionell. Sie bemerkt es nicht, sie wird es noch lange nicht bemerken. Im Brief sagt er noch Sie zu ihr: „Ich bin mit ein paar Rosen in der Hand in der Stadt und dem Anfange des Englischen Gartens herumgewandert, um Ihnen die Rosen zu schenken. Ja, statt sie vor der Thür mit dem goldenen Schlüssel abzugeben“ – Frieda und sie wohnen in den „Fürstenhäusern“, in der Münchner Schellingstraße – „trug ich sie mit mir herum, zitternd vor lauter Willen, Ihnen irgendwo zu begegnen. Und das war doch ungefähr so, wie wenn Einer einen Brief ins Meer wirft, damit die Wellen denselben an den Strand des Freundes tragen, dem er zugehört.“ Dem er zugehört! Auch das ist verwegen. Das Prager Militär ruft ihn, und er muss sie vorher dringend noch einmal sehen: „Indessen macht mir die Stellung augenblicks, trotz aller möglichen Folgen nicht so bang wie das von hier fortmüssen.“ Vielleicht darum nehmen Lou und Frieda von Bülow ihn mit nach Wolfratshausen, zu einem Sommerausflug. Seit kurzem führt eine Bahnlinie dort hinaus. Lou am 1. Juni: Die Nacht in Wolfratshausen, um 3 aufgestanden um ½ 4 mit Rilke gefrühstückt in der Geisterwand und bis 7 Uhr ausgegangen. Um 7 Uhr mit Frieda Kaffee getrunken … Die Nacht? Es ist indiskret, in den Lieben anderer Leute zu spionieren, andererseits ist genau das die Aufgabe des Biografen, und sicher ist, dass die Bedrängte nun sehr bald einen Zustand aufgibt, an dem sie 36 Jahre entschlossen festgehalten hat: ihre Jungfräulichkeit. Sieben Zeilen geschwärzte Textlücke in Lous Tagebuch und Auskünfte Rilkes wie „Denn ich habe der Sehnsucht neben mir in die Augen geschaut, und sie führt mich an sicherer Hand. Ich kann leiser werden in jedem Wort“ im ersten Nach-Wolfratshausen-Brief könnten dafür sprechen. Andererseits redet er sie mal mit Du, mal mit Sie an – was zu gewichten schwer ist, denn Menschen, die miteinander schlafen, kennen sich nicht immer gut genug, um schon Du zueinander zu sagen. Zumindest muss die 1.–Juni-Nacht von Wolfrathshausen, auch wenn sie noch nicht die erste war, über beider nähere Zukunft entschieden haben: als gemeinsame. Die beredte Auskunft lautet: „Ich habe eine Heimat.-“ Heißt, in Rilkes Fall: Ich habe eine Mutter, ich habe eine Geliebte. So fährt er als neu, als erstmals Beheimateter in seine Heimatstadt Prag, zu dieser „Stellungssache“. Liebende machen nur selten einen militärisch wirklich überzeugenden Eindruck, das Telegramm, das sie schon am nächsten Tag in der Hand hält, lautet: „Frei und bald auch froh“. Als er wieder zurück ist, ist Pfingstsonntag genau wie heute, sie haben sich zwei Tage lang nicht gesehen, da entscheidet er sich wieder für das Sie: „Was für eine große Revolutionärin Sie doch sind. – Throne haben Sie keine in mir umgestoßen. Aber an dem einen Thron, der wartete, sind Sie leise lächelnd vorübergeschritten.“ Zwei Tage später scheint ihm das „Du“ der Art der Mitteilung doch angemessener: „Dir möchte‘ ich Blumen aufs Haar legen. Welche? Keine ist rührend einfach genug. Aus welchem Mai soll ich sie holen? … Ich habe Dich nie anders gesehen, als so, daß ich hätte beten mögen zu Dir. Ich hab Dich nie anders gehört, als so, daß ich hätte glauben mögen an Dich. Ich hab Dich nie anders ersehnt, als so, daß ich hätte leiden mögen um Dich. Ich hab Dich nie anders begehrt, als so, daß ich hätte knien dürfen vor Dir.“ Nie anders? Er kennt sie gerade zwei Wochen. Und sein Brief ist noch lange nicht zuende. Da, wo die Sprache der meisten Menschen aufhört, fängt die seine erst an. (Um noch einmal auf die gestrige Frage zu kommen: Was ist Dichtung? Die meisten Menschen, wenn sie etwas ganz Persönliches sagen wollen, werden formelhaft, sagen das Allgemeinste statt das Intimste. Daran tragen sie selber nicht unbedingt die Schuld, unsere Sprache setzt da eine natürliche Grenze. Dichter sind Leute, die diese Grenze überschreiten, als ob es nichts Leichteres gäbe.) Und sie soll bloß nicht glauben, er könne das nicht noch anders sagen: „Ich will den Segen Deiner Hände auf meinen Händen und meinem Haar in meine Nacht mitnehmen. Ich will nicht zu den Menschen reden, damit ich den Nachklang Deiner Worte … nicht verschwende … Ich will aufgehen in Dir, wie das Kindergebet im lauten, jauchzenden Morgen … Ich will Du sein. Ich will keine Träume haben, die Dich nicht kennen.“ Seite um Seite liest sie Nachrichten dieser Art und macht inzwischen auch Notizen: 13. Juni mit Rilke Geschirr gepackt. Sie gehen für den Sommer nach Wolfrathshausen. Aber wer geht da mit wem? Eigentlich wollten Frieda und Lou den Sommer gemeinsam verbringen und Besucher empfangen. Nun, Frieda von Bülow sieht es wohl zu genau, die beiden gehen und nehmen sie nur mit. Sie ist Afrikanerin genug, um zu bemerken, dass da zwei ihren eigenen Dschungel entdeckt haben. Am 15. Juni steht zum ersten Mal Rainer in ihrem Tagebuch. Übergangslos von Rilke zu Rainer. René hat sie ihn nie genannt. Und sie mag weder seine Handschrift noch seinen Namen. Mit der neuen Handschrift wird es nicht so leicht sein, doch er übt. Seinen neuen Namen nimmt er willig an, denn er ist von ihr. Dabei ist dieser Tag der Namensgebung kein guter Tag, obwohl er schön begann - wieder sehr früh, um fünf Uhr schon, zu zweit auf der Terrasse. Aber am Nachmittag kommt Besuch, ein Russe, den sie bei ihrem vorletzten Vorfrühlings-Besuch in der Heimat kennengelernt hat. Er heißt Wolinski und sie wollen zusammen an einer Novelle arbeiten. Es ist eine russische Novelle, also etwas, wovon Rainer nichts versteht. Er muss ausziehen, in die Nachbargemeinde. Sie nennt es Rainers Abzug nach Dorfen. Und die nächsten zwei Tage werden noch schwerer. Sie fährt nach Kufstein, mit dem Russen! Und nimmt ihn nicht mit. Er registriert, dass auf seinen probehalber gerufenen Gute-Nacht-Gruß am Abend keine Antwort kommt. Wieder ohne Antwort bleiben müssen? Das macht ihm Angst, das mag er sich nicht vorstellen. Ich breche hier ab mit der Bemerkung, dass eine wirkliche Liebe nicht zuletzt dadurch bestimmt wird, dass zwei Menschen sich eine eigene Welt schaffen, die niemand sonst kennt und in der nur sie allein Bürgerrecht besitzen. Sowohl Rilke als auch Lou Andreas-Salomé sind sehr begabte Weltenbauer. In diesem Fall sind sie jedoch auch große Weltenvernichter. Sie sitzen zu Gericht über seine bisherige Dichtung, die ihr nicht gefällt, ja sie sagt noch später in aller Klarheit: der sie trotz ihrer Musikalität, kein Verständnis entgegenbrachte. Zu überspannt? Zu sentimental? Wenn ihr etwas nicht gefällt, was von ihm ist, dann hat es – darin ist der Jungdichter unerschütterlich – kein Existenzrecht. Und wenn ihr nicht ganz wohl sein sollte angesichts des Scheiterhaufens, tröstet er sie: Einmal werde es ihm gelingen, die Dinge so einfach zu sagen, dass sogar sie seine Gedichte verstehen könne. Es ist vielleicht nur wenigen Menschen gegeben, den Übergang von einer großen Liebe zu einem großen Vernichtungswerk wirklich überzeugend darzustellen. Sie kann es: War ich jahrelang Deine Frau, so deshalb, weil Du mir das erstmalig Wirkliche gewesen bist, Leib und Mensch ununterscheidbar eins, unbezweifelbarer Tatbestand des Lebens selbst. Wortwörtlich hätte ich Dir bekennen können, was Du gesagt hast als Dein Liebesbekenntnis: „Du allein bist wirklich.“ Darin wurden wir Gatten, noch ehe wir Freunde geworden … Nicht zwei Hälften suchten sich in uns: die überraschte Ganzheit erkannte sich erschauernd an unfaßlicher Ganzheit. So waren wir denn wie Geschwister – doch wie aus Vorzeiten, bevor Inzest zum Sakrileg geworden. Und eben diese Ganzheit, so wollte auch er es, musste sich bewähren, musste noch die härteste Probe bestehen. Aber ob wir das Recht hatten, damals Gedichtetes so zu zerstören, wie wir es getan? Es besaß, gegenüber Späterm, so sehr die Züge, das Antlitz Deiner Reinmenschlichkeit, Nurmenschlichkeit … in viel spätern Monaten, im Schmargendorfer „Waldfrieden“, als Du, in kürzester Zeit berauschten Zustandes, den „Cornet“ aufschriebst, fiel Dir darin Ähnlichkeit mit Strophen von damals auf, die wir nicht mehr vergleichen konnten ? Und dann geht dieser große Sommer zuende. Was macht man mit Ganzheiten? Sie allein zurückzulassen, wäre eine Halbheit, nein, es ist gar nicht möglich. Seine andere Hälfte kann man zurücklassen, die eigene Vollkommenheit nicht. Rainer kommt mit nach Berlin. Er geht, ohne sich von den Menschen zu verabschieden, die er in München kennt. Am 1. Oktober fahren sie nach Berlin. Am 2. und 3. suchen sie ein Zimmer für ihn, finden schließlich eins in der Rheingaustraße. Aber egal, wo er wohnt, er ist ohnehin meistens bei ihr. Die Familie Andreas hat ein neues Mitglied. Wie mag Lou ihn bei ihrem Mann eingeführt haben? Vielleicht als ihre neue Haushaltshilfe? Er trocknet ab, er hackt Holz, hilft bei allem Alltäglichen. Überhaupt ist beider natürlicher Aufenthaltsort die Küche, denn die Wohnung hat nur einen größeren Raum und das ist Andreas‘ Bbliothek, sein Arbeitszimmer. Gewiss hilft Rainer Maria Rilke auch beim Kochen. Seine Lieblingsgerichte sind russische Topfgrütze und Bortsch, er wird in ein paar Jahren eine junge Worpsweder Malerin genau unterrichten, wie beides herzustellen sei. Vielleicht beginnt er schon jetzt, die weiten blauen Russenhemden zu tragen. Lou ist seine Heimat, Rodinka. Also ist ihre Heimat auch seine Heimat. Also, erkennt er, ist er seiner innersten Bestimmung nach ein Russe. Das Lebensrisiko aller Russen hat einen Namen: Sibirien. Sibirien ist dort, wo sie nicht ist. Drei Jahre lang bilden Lou Andreas-Salomé und Rainer Maria Rilke eine ekastatische Denk- und Liebessymbiose, durchaus mit tiefen Erschütterungen. Höhepunkte sind zwei gemeinsame Russland-Reisen, die kann ich Ihnen hier nicht darstellen, doch zwei, drei Eindrücke der zweiten will ich Ihnen doch geben, denn mit ihr geht auch Lous und Rainers gemeinsame Geschichte zuende. Wieder sind sie in Jasnaja Poljana, obgleich kaum eingeladen. Beim ersten Mal übersah Tolstoi den jungen Mann, jetzt wendet er sich doch an ihn. Im Bericht Lous: Nach einer Frage an Rainer: „Womit befassen Sie sich?“ und dessen schüchterner Antwort: „Mit Lyrik“, war eine temperamentvolle Entwürdigung jeglicher Lyrik auf ihn niedergeprasselt. Nur Nichtsnutze schreiben Gedichte, dabei ist die Welt und besonders Russland voller ungetaner Taten! Allerdings können weder Lou noch der Belehrte den Ausführungen des Meisters mit voller Aufmerksamkeit folgen, weil sie sich beim Gehen inzwischen dem Ausgang des Gutshofs genähert haben, wo ein Pilger wartet. Und den finden beide noch erstaunlicher als die Ansichten des alten Grafen, der für ein besseres Russland bedenkenlos alle Dichtung der Welt und zuvörderst seine eigene hergäbe, weshalb man künftig gar nicht mehr erst dichten, sondern Russland und die Welt gleich verbessern solle. Der Pilger, schon greise, war herangekommen, wurde nicht müde, den andern Alten unter stets erneuten Verbeugungen und Grüßen zu ehren. Er bettelte nicht, er grüßte nur, wie die vielen, die oft von weit her kamen zu dem gleichen Zweck: ihre Kirchen oder Heiligtümer wiederzusehen. Und eben ein solches Heiligtum ist auch der Graf, der jedoch achtlos weitergeht, weil er das Pilgern für genauso übel hält wie die Dichtung, das russische Ostern oder Ikonen. Spätestens seit diesem Besuch auf Jasnaja Poljana beginnt der getadelte Jungdichter jedem Bauern erwartungsvoll entgegen zu sehen wie einer möglichen Vereinigung von Simplizität und Tiefsinn. Offenbar begreifen sich diese Menschen noch nicht als Einzelne, damit auch Vereinzelte, sondern als selbstverständlichen Teil des Weltgewebes. Wenn Sie so wollen, handelt es sich um einen mentalen Zustand vor der Subjekt-Objekt-Trennung, kein Zweifel, das "Stundenbuch" bereitet sich vor. Schon die Moskauer Tretjakow-Galerie haben sie gemeinsam mit Bauern besucht und statt auf die Bilder mehr auf jene geschaut, die sie sahen: „Kühe! Kennen wir!“ Auf den Bauerngesichtern breitete sich eine abgrundtiefe Enttäuschung aus. Alles hätten sie an einem solchen Ort erwartet, nur kein Rindvieh. Gemalte Kühe, resümierte einer, gingen sie nichts an. Doch im Gesicht eines seiner Mitbauern ging ein Lächeln der Erkennntnis auf: „Diese da sind gemalt, weil sie Dich was angehn -. Weil Du sie lieben mußt, sind sie gemalt. Du mußt sie lieben, obgleich sie dich nichts angehn, - siehst Du.“ Erschrocken über die eigenen Worte, über den Bauern als Kunstkritiker, sah er hilfesuchend den Fremden neben sich an: Rilke. Der starrte längst auf den Verteidiger der Kühe und unfähig, den Blick abzuwenden, brach es aus ihm heraus in seinem mangelhaften Russisch – hingerissen: „Du weißt es -.“ Sie beginnen, sich an die Allgegenwart Gottes zu gewöhnen. Und auch als sie seinen Hauptwohnsitz erfahren, ist ihnen, als haben sie auch den schon immer gewußt. In der linken Achselhöhle des Menschen wohnt Gott! Der russische Dichter Nikolai Semjonowitsch Ljeskow hat ihn dort aufgefunden. Rainer übernahm ihn, diesen Gott, … er bog in Rußlands Geschichte und Gotteslehre seine eigensten Nöte und Andachten ineinander, das Wort ward wie noch nie – das Gebet ward. Man darf sich nicht dadurch täuschen lassen, daß in den Büchern des „Stundenbuchs“ es nicht widerspruchslos ein und derselbe Gott ist. So wie Gott den Menschen in Obhut nimmt, nimmt auch der Mensch Gott in Obhut. In Saratow gehen sie an Bord eines großen Dampfers, um 1 Uhr nachts. Er: „Auf der Wolga, diesem ruhig rollenden Meer, Tage zu sein und Nächte, viele Tage und viele Nächte: ein breit-breiter Strom, hoher, hoher Wald an dem einen Ufer, an der anderen Seite tiefes Heideland, darin auch große Städte nur wie Hütten und Zelte stehen. – Man lernt alle Dimensionen um. Man erfährt: Land ist groß. Wasser ist etwas Großes, und groß vor allem ist der Himmel. Was ich bisher sah, war nur ein Bild von Land und Fluß und Welt. Hier aber ist alles selbst. – Mir ist, als hätte ich der Schöpfung zugesehen; wenige Worte für alles Sein, die Dinge in den Maßen Gottvaters“ . Aber er findet die Worte nicht dafür, hat das Gefühl, tausend Gebete zu überhören. Und auch die Gefährtin erreicht er nicht mehr. Die geliebte Frau wird bald die Grausamkeit besitzen, es ihm gegenüber so zu formulieren: Darum verlor Deine Gestalt, - in Wolfratshausen noch so lieb und deutlich dicht vor mir, - sich mir mehr und mehr wie ein Einzelteilchen in einer Gesamtlandschaft, - in einer weiten Wolgalandschaft gleichsam, und die kleine Hütte darin war nicht die Deine. – Sie wird ihm das russische Heimatrecht entziehen, tiefer kann sie ihn nicht treffen. Und er wird nur zu gut wissen, welche Hütte sie meint. Rilke muss weg! Vorerst lässt sie ihn in Sankt Petersburg einfach auf dem Bahnsteig stehen, während sie zu Verwandten nach Finnland fährt. Es ist vorbei. Ein lebender Seismograph wie Rilke wird das schon verstanden haben, bevor sie ihn ganz fortschickt. Lenin kehrt 1900 aus der Verbannung zurück, Rainer Maria Rilkes Aufenthalt in Sibirien beginnt jetzt. Schon am Nachankunftstag in Berlin fährt er weiter, zu Heinrich Vogeler ins Moor. Am 27. August 1900 trifft er in Worpswede bei Bremen ein. Sie schreibt inzwischen den Nachruf auf eine große Liebe – als wissenschaftliche Abhandlung, Titel: „Das Liebesproblem“. Ihr ist jetzt so systematisierend zumute, sie muss sich ontologisch absichern, sie muss sich beweisen, dass sie ihn verlassen darf: Innerhalb der Gefühlsbeziehungen des Menschen zu der ihn umgebenden Welt mit ihren Lebewesen und Dingen, scheint auf den ersten Blick alles sich einordnen zu lassen in die beiden großen Gruppen des uns Homogenen, Sympathischen, Vertrauten einerseits, und des uns Unverwandten, Fremden, Feindlichen andererseits. Entweder fühlt unser natürlicher Egoismus unwillkürlich veranlaßt, sich zu erweitern, - eine Strecke weit sich mitfreuend, mitleidend in das Selbst eines Andern so einzugehen, als handle es sich um das eigene Selbst, - oder aber umgekehrt, irgend etwas reizt ihn, sich hart zusammenzuziehen, sich zu verengen und der Außenwelt ablehnend, angreifend, drohend gegenüberzutreten. Beide Grundzüge würden sich im Laufe der Menschheitsentwicklung immer weiter ausprägen und immer stärker in Konflikt miteinander geraten, wobei die Art und Weise, wie das geschieht, einer jeden Kulturepoche ihr besonderes Gepräge gibt. Wirklich zu versöhnen wären sie nie. – Was für eine ausgreifende, noch uns Heutige treffende Überlegung, was für eine Nietzsche-Umwendung ins Biegsame. Nur wo das „Liebesproblem“ hier seinen Platz finden soll, scheint anfangs nicht ganz klar. Bis zu einem Absatz, der in größter Selbstverständlichkeit so beginnt: Nun gibt es aber noch eine dritte Art von Gefühlsbeziehungen neben der sympathischen und der feindlichen, gewinnsüchtigen, - eine Beziehung, die ihre Wurzel eben da tief unten zu haben scheint, wo diese beiden sich erst auseinanderspalten … Hierzu gehören alle erotischen Beziehungen. Zwei Fremdheiten, zwei Gegensätze, zwei Welten träfen hier aufeinander, zwischen denen es diejenigen Brücken nicht gibt und niemals geben kann, welche das uns Verwandte, Gleichartige, Vertraute so mit uns verbindet, wie wenn wir zu uns selber kämen. Und schnell fast sie auch den ebenso traurigen wie unabänderlichen Punkt ins Auge: Sicher ist, daß vom Augenblick an, wo der geliebte Gegenstand nur noch unendlich bekannt und verwandt und vertraut auf uns wirkt – und entnervend, wagen wir der Deutlichkeit halber hinzuzufügen -, aber garnicht, - in keinem Punkte mehr, - als ein Symbol fremder Möglichkeiten und Lebensmächte, der eigentliche Liebesrausch zum Abschluß kommt. Die Diagnose ist aussichtslos: Was einst an hundert minimalen Zügen entzückte, werde jetzt Anlaß von ebenso vielen kleinen Reizbarkeiten. Aber eben das wollen die Menschen nicht sehen, was einerseits an den positiven wie negativen, also platonischen wie positivistischen Vorurteilen liegt, andererseits aber am erotischen Affekt selbst, der ganz selbstlos zu sein und nur den anderen zu meinen scheint. Falsch! Die Autorin weist in immer neuen Anläufen nach, dass eben die Illusion ist: Liebesleidenschaft ist von allem Anfang an außer Stande zu einer wirklichen sachlichen Aufnahme eines Andern, zu einem Eingehen in ihn, - sie ist vielmehr unser tiefstes Eingehen in uns selbst. Was zu beweisen war. Diese Selbstsucht der Liebe scheint die Verfasserin zu unablässigem Gebrauch des Wortes geliebter Gegenstand zu ermutigen, wofür sie die Internationale der Liebenden im Namen Rainer Maria Rilkes noch nachträglich verklagen könnte. Subjekt – Objekt, hier? Das ist verräterisch, wird aber gemildert durch ihre schöne Darstellung der Kindlichkeit aller wirklich Liebenden. Mit allen Eichhörnchen von Wolfratshausen bis Finnland als Zeugen. Fazit: … überall, wo überhaupt Menschen lieben, rührt Einer nur gar leise an den Andern und überläßt ihn dann sich selbst. Und genau das hat sie vor. Jedoch nicht, ohne einen letzten Trost der Theorie für ihn bereitzuhalten: Nur Einer weiß, daß Glück und Qual dasselbe sind in allen intensivsten, allen schöpferischen Erfahrungen unseres Lebens: der schaffende Mensch. Schon weil Lieben und Schaffen in ihrer Wurzel identisch seien. „Du allein bist wirklich“, lautete die Formel seiner, ihrer Liebe. Aber sie fühlt längst wieder eine andere, ihr wohlvertraute, viel mächtigere Wahrheit: „Ich allein bin wirklich!“ Sie schickt ihm einen grausamen Abschiedsbrief und gibt ihm sogar einen Titel: "Letzter Zuruf". Es ist ein wahrer Höllenbrief, wenn die Hölle der Ort ist, an dem es nichts mehr gibt, woran man anknüpfen könnte. Und doch scheint diese Prosa das Selbstbild der Absenderin im Nachhinein mehr irritiert zu haben, als sie annahm. Sie geht noch einmal in seine Wohnung, trifft ihn nicht an und schreibt in zerfahrener Schrift auf die Rückseite des großen Blattes einer Milchrechnung, die sie bei ihm findet: Wenn einmal viel später Dir schlecht ist zu Muthe, dann ist bei uns ein Heim für die schlechteste Stunde. Viel später, schreibt sie, das ist deutlich. Und doch: eine Hölle mit Fußnote – ist das schon fast wie eine Perspektive? Sie brauchte für die akademische, gleichwohl kluge Grablegung ihrer Liebe fast vierzig Seiten. Ihm werden drei Strophen genügen: I Ich steh im Finstern und wie erblindet, weil sich zu Dir mein Blick nicht mehr findet. Der Tage irres Gedränge ist Ein Vorhang mir nur, dahinter Du bist. Ich starre drauf hin, ob er sich nicht hebt, der Vorhang, dahinter mein Leben lebt, meines Lebens Gehalt, meines Lebens Gebot – und doch mein Tod -. II Du schmiegtest Dich an mich, doch nicht zum Hohn, nur so, wie die formende Hand sich schmiegt an den Ton. Die Hand mit des Schöpfers Gewalt. Ihr träumte eine Gestalt – Da wurde sie müde, da ließ sie nach, da ließ sie mich fallen, und ich zerbrach. III Warst mir die mütterlichste der Frauen, ein Freund warst Du wie Männer sind, ein Weib so warst Du anzuschauen, und öfter noch warst Du ein Kind. Du warst das Zarteste, das mir begegnet, das Härteste warst Du, damit ich rang. Du warst das Hohe, das mich gesegnet – und wurdest der Abgrund, der mich verschlang. Das wäre natürlich ein guter Schluss, es ist das Ende, und doch nicht das Ende. Also machen wir einen Sprung von fast fünf Jahren. Immer wieder schreibt Rilke an Lou, vergeblich. Doch sein Drängen auf ein Wiedersehen wird nur stärker. Ein gutes Argument immerhin hat er: Wer weiß, ob er in der schlechtesten Stunde überhaupt kommen kann? Wäre es da nicht besser, er kommt gleich? „Und Hülfe wäre es, Dir von vielen Dingen zu reden und Dich zu hören und schweigen zu sehen; Dir einmal etwas zu lesen …“ Ja, er überlegt gar, in Göttingen zu studieren. Lou wohnt inzwischen dort, ihr Mann hat in Göttingen eine Professur bekommen. „Ich frage nicht, ob der Ort, den ich für all das suche, Göttingen sein kann? Denn Du würdest es mir sagen, wenn es Dir möglich schiene.“ Es sind drei Zeilen nur in einem Brief von 21 Druckseiten. Schweigen. Frühjahr 1905. Lou hat ihr Göttinger Haus "Loufried" genannt - so wie Wagner das seine "Wahnfried" - und hat dort sogar einen eigenen Hühnerhof. Schlimm ist nur, dass der Hahn ihre neugekauften schwarzen Hennen nicht mag und ihnen beständig "auf's Gehirn hackt", wie die Hühnerfrau sagt. Die Blüte der ersten Kirschbäume im Garten findet einen verzweifelten Hahn im Exil. Er umkräht den Hühnerhof, aus dem er verbannt wurde, seit die Lieblingshenne ihre Tage mit verstauchtem Fuß verbringen muss. Sie war nicht schnell genug gewesen, sich und ihr Gehirn vor dem Hahn in Sicherheit zu bringen. Sie sieht die neuen hellen Tannenspitzen, sie sind ihr wie ein Duft von Sommer und Weihnachten zusammen. Das ewig Neue im ewig Gleichen, es erstaunt sie in jedem Frühling, beinahe an jedem Morgen. Und unsere eigene Natur besitzt diese Kraft des Neuwerdens auch, notiert sie. Wenn die täglichen Wiederholungen, die des Frühstücks oder des Spaziergangs begännen, monoton zu wirken, sei das ein seelisches Krankheitszeichen. Durch diesen großen Frühling kräht der verzweifelte Hahn, in immer neuem Ansturm gegen die ihm verschlossene Mitte seines Daseins. Und noch ein vom Zentrum seines Daseins Ausgeschlossener ruft sie mit gleicher Ausdauer, nur etwas anderen Tönen: „ … das Wiedersehen mit Dir ist die einzige Brücke zu allem Kommenden, - Du weißt es, Lou.“ Und dann, in eben diesem Mai denkt er an das Blühen in ihrem Garten: „Wie sehnt man sich danach, davon Theil zu sein; nur einmal wieder in sich die Hand zu fühlen, die die Lerchen so hoch in die Himmel wirft.“ Wie im ersten Fall zu verfahren ist, weiß sie bald; ihr Entschluss lautet: Frikassee! Im zweiten zögert sie noch bis zum 21. Mai, um den Antragsteller dann im Ton größter Selbstverständlichkeit zu benachrichtigen. „Lieber Rainer, ja, ich kann Dich gut hier haben wenn’s in der Pfingstwoche sein könnte?“ Der so Informierte verliert vor Schreckfreude jede Orientierung: „Heißt das schon Pfingst-Sonntag oder die Tage hernach, oder die Tage vorher?“ Er überlegt lange, was er Schimmel mitbringen könnte, Lous Hund, den er längst als „mein ‚nächster‘ Hund oder besser mein Hunde-Nächster“ bestimmt hat. Und dann, zu Pfingsten 1905, muss Schimmel seinen Lieblingsplatz in der offenen Altantür räumen, wo er mit hochmütigem Blick in die Ferne ein ganzen Roman eröffnen durfte. Das Wiedersehen in Lous Erinnerung: Noch sehe ich Dich hingestreckt auf dem großen Bärenfell vor der offenen Altantür, während das bewegte Laub Licht und Schatten über dein Gesicht warf. Rainer, dieses war unser Pfingsten von 1905. Es wurde es in noch anderm Sinn, als Du es in Deiner ungestümen Ergriffenheit ahntest. Denn mir war es zugleich wie eine Himmelfahrt des Dichterwerkes über den Dichtermenschen. Zum ersten mal wurde das „Werk“ – welches es nun durch Dich werden würde und was es von Dir auch würde heischen müssen – mir klar als der berechtigte Herr und Befehl über Dir. Stockenden Herzens grüßte etwas in mir die für Jahrzehnte noch ungeborenen Elegien. Von unserem Pfingsten an las ich, was Du schufst, nicht nur mit Dir, ich empfing es und bejahte es wie eine Aussage über Deine Zukunft, die nicht aufzuhalten war. Und hieran wurde ich noch einmal Dein, auf eine zweite Weise. vergeblich. Frühsommer 1905. Am 12. Februar, zu ihrem Geburtstag, sind wieder blaßrosa Nelken aus Rom gekommen, und Maiglöckchen dazu. Die Maiglöckchen halten nach Auskunft der Empfängerin bis in den April hinein.
Schauspieler. Franz hat einen Rilke Abend zusammengestellt, den ich im Herbst miterlebt habe. Seit diesem Abend ist mir der Rilke nicht mehr aus dem Sinn gegangen. So gesehen, ist er "schuld", dass unser Pfingstsymposium sich um RILKE dreht. Nach einem Schauspielstudium an der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz folgten Engagements am Düsseldorfer Schauspielhaus, am Residenztheater München, am Schauspiel Bonn, am EDT Hamburg, am Münchner Volkstheater, am Theater Phönix, beim Festival der Regionen und beim Theater Hausruck.1996 leitete Froschauer die Festwochen Gmunden.
Aus der Juristin Ute Karin Höllrigl mit ihrem Sinn für Recht und Gerechtigkeit wurde eine Psychoanalytikerin, die auf die Kraft der Träume und auf die innere Stimme vertraut. In zahlreichen Essays, Vorträgen und Publikationen hat sie sich mit der Botschaft der Träume beschäftigt. Sie hat über die Traumanalyse bei C. G. Jung ebenso geschrieben wie über eigene Träume, hat sich intensiv mit den Texten von Ingeborg Bachmann beschäftigt, mit der Lyrik von Hilde Domin, Christine Lavant und vielen anderen. “Stufen inneren Entfaltens anhand weiblicher Dichtung” heißt einer ihrer Texte. Sie hat über den “Tod im Traum” geschrieben, über das Kind in uns, über das Annehmen der eigenen Schattenseiten – Texte, die aus ihrer langjährigen Erfahrung als Psychoanalytikerin entstanden sind.
Psychotherapeut. Er praktiziert seit seinem 20. Lebensjahr Zen-Meditation. Er ist Zen-Lehrer und außerdem leitet er Schweigewochen. Bei so einer Schweigewoche habe ich (Heini) ihn kennengelernt.
Es ist mehr als zwanzig Jahre her, da hat Christoph bei uns Meditationspölster bestellt. Er bat um einen "guten Preis", dafür bot mir an, dass ich bei einer Meditations- und Schweigewoche mitmachen dürfe. Dafür bin ich heute noch dankbar, denn diese Woche hat mein Leben ganz stark beeinflusst, man könnt fast sagen "verändert". Ich freue mich sehr, dass er beim Rilke-Symposium dabei sein wird. Jeden Tag wird er eine Morgenmeditation anleiten. Zur Einstimmung wird es jedes Mal ein Gedicht von Rilke geben.
Alle waren eingeladen. Alle, die über den Rand der Konsumgesellschaft hinausschauen wollten (die in das Leben aus der Zelle sahen, und die – den Menschen ferner als den Dingen – nicht wagten zu wägen, was geschieht). Rilke stand für Tiefgang … und so wurde unser Symposium ein Gang – mit Sicherheit auch ein Gang in die Tiefe. Wie schon bei den letzten Symposien verbrachten wir auch diesmal Zeit in der Natur … Rilke und Natur … das Innen und Außen … so wie wir.
Hier wollen wir euch Ergebnisse und Einblicke in das vergangene Symposium geben.
ERSTES LIED
… Abend. Eine junge Frau am Strand
eine Mutter wohl sitzt da
mit ihrem Kind. Sie singt
und vernimmt alsbald
des Kindes Schlafesatem
schaut friederfüllte Zuversicht
und spiegelt ihm sein Lächeln wider.
nicht Lächeln bloß – ein Strahlen
Erfüllt das kindlich Angesicht.
Das Kind wird wie das Meer
an Ferne und an Himmel rühren,-
dein Stolz sein oder auch dein Kummer,
Geflüster sein dir oder Stille.
Du kennst nur seinen Strand,
dir bleibt das Warten nur an Land ...
Magst wohl ein Liedchen singen
helfen kannst du ihm rein gar nicht
Zu leben, zu sein und zu schlafen.
29 November 1900, Schmargendorf
ПЕРВАЯ ПЕСНЯ
... Вечер. У моря сидела
девочка, как мать сидит
у ребенка. Она пела,
и теперь она слышит
его сонное дыханье;
видев мир и упованье,
улыбается она:
не улыбка — это сиянье,
праздник своего лица.
Дитя будет точно море
трогать даль и небеса,—
гордость твое или горе,
шопот или тишина.
Берег его только знаешь,
и сидеть тебе и ждать...
То и песну запеваешь,
и ничем не помогаешь
ему жить и быть и спать.
29 ноября 1900, Шмаргендорф
Ich bin allein, niemand versteht
das Schweigen: Stimme meiner langen Tage
kein Lufthauch öffnet
die große Weite meiner Augen ...
Draußen steht der ungeheure Tag, ein fremder
Vorstadtrand; da liegt ein großer Jemand
wartend da. Ich denke: Bin das etwa ich?
Und wart' worauf? Und wo ist meine Seele?
Übersetzung von Elisabeth Namdar-Pucher
Я так один. Никто не понимает
молчанье: голос моих длинных дней
и ветра нет, который открывает
большие небеса моих очей.
Перед окном огромный день чужой
край города; какой-нибудь большой
лежит и ждет. Думаю: это я?
Чего я жду? И где моя душа?
Lektorat und Beratung für Diana Wiedra alias Sophia Benedict bei folgenden Werken:
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